«Immer noch gut, immer noch wichtig»tun & lassen

Das Internationale Straßenzeitungsnetzwerk INSP in Zahlen: 92 Straßenzeitungen in 35 Ländern, 25 Sprachen, mit über 3 Millionen Leser:innen. Im Bild: Teilnehmer:innen des diesjährigen INSP-Summits vor der berühmten neoklassischen St George’s Hall in Liverpool (Foto: Jason Lock Photography)

Straßenzeitungen sind ein globales Phänomen – und eine soziale Bewegung. Jede ist einzigartig, und doch haben alle dieselben Herausforderungen – und gemeinsam eine enorme Kraft. Beim diesjährigen Summit des Internationalen Straßenzeitungsnetzwerks in Liverpool ging es ums Ganze. Wir waren dabei.

Über 100 Personen von 50 verschiedenen Straßenzeitungen – viele aus europäischen Ländern, aber auch einige aus Brasilien, Mexiko, Australien, Japan, Taiwan und den USA trafen sich im September in Liverpool, England, zum Global Street Paper Summit 2024 des Internationalen Straßenzeitungsnetzwerks INSP. Als dreiköpfige Delegation aus Wien vertraten wir dort den Augustin.
Nachdem der Einstieg etwas seichter mit Kulturprogramm und Sightseeing startet, wurden wir von Steve Rotheram, dem Bürgermeister von Liverpool, sowie dem Board des INSP feierlich willkommen geheißen. In ihrer Begrüßung betonte Fay Selvan vom Magazin Big ­Issue North aus Manchester und INSP-Board-Mitglied, dass in einer Welt, die mehr und mehr durch globale Herausforderungen, Kriege und Katastrophen gespalten und beängstigend werde, die Bedeutung eines globalen Netzwerks, das die Ärmsten ihrer Gesellschaften unterstützt, umso größer ist.
Im Laufe der 4-tägigen Konferenz, die in einem Hotel im Zentrum Liverpools stattfand, wurde in unterschiedlichen Beispielen vor allem die Relevanz von Straßenzeitungen deutlich. Besonders gut seien sie laut Simon Solhøj Nielsen, Verkäufer der dänischen Straßenzeitung Hus Forbi, darin, Menschen aufzufangen, die durch andere soziale Netze fielen. Aber auch die gemeinsamen Herausforderungen, mit denen Straßenzeitungen weltweit konfrontiert sind, waren im Mittelpunkt: sinkende Verkaufszahlen, Rückgang von Printmedien, Digitalisierung, schnell verändernde soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen.

Aus Fehlern und Erfolgen lernen

Regelmäßige Zusammenkommen wie dieses, das alle ein bis zwei Jahre stattfindet – oder auch das jährliche Treffen der deutschsprachigen Straßenzeitungen, Letzteres im Mai 2024 in Hamburg, haben große Vorteile. Aus Fehlern von missglückten Projekten können wir lernen, genauso von erfolgreichen Projekten, die auch von anderen Straßenzeitungen übernommen werden können – und es gibt Unterstützung bei der Umsetzung.
Diesmal konnte der Augustin ein Vorbild-Projekt vorstellen: unsere Methode der bargeldlosen Bezahlung der Zeitung auf der Straße, gefördert durch den Digitalisierungsfonds der Arbeiterkammer Wien. Die Begeisterung war groß, denn dadurch, dass «Augustina» als Open-Source-Projekt entwickelt wurde, kann es mit wenig Aufwand von anderen Zeitungen übernommen werden. Einige Straßenzeitungen haben daran bereits ihr Interesse verkündet, darunter der 20er in Tirol, Hinz&Kunzt (Hamburg), Surprise (Schweiz), Fedél Nélkül (Ungarn), Kralji Ulice (Slowenien), Shedia (Griechenland) und Big Issue (Japan).
Einerseits ist es erleichternd zu sehen, dass der Augustin mit Problemen wie den rückläufigen Verkaufszahlen nicht alleine dasteht. Gleichzeitig ist es auch entmutigend, zu erfahren, dass auch andere Straßenzeitungen hierfür noch keine Lösung gefunden haben. Tatsächlich gab es wenig bis keine umfangreichen Erfolgsmodelle zur Steigerung des Zeitungsverkaufs, dafür einige ­Ideen, neben dem Zeitungsverkauf zusätzliches Einkommen zu generieren. Beispielsweise von der Zeitung Shedia aus Athen, erfolgreich mit dem Verkauf von Upcycling-Produkten, die aus unverkauften Zeitungen hergestellt werden. Verkäufer:innen erhalten in dem Projekt Weiterbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten und fertigen Lampen und Schmuck an. Der Verkauf der nachhaltigen Produkte trägt zur Finanzierung des Gesamtprojekts bei. Neu ist bei Shedia der Verkauf von Bitterorangen-Marmelade; von den Verkäufer:innen selbstgemacht. Die Zeitung bleibt dabei das Herzstück von Shedia. Auch das portugiesische Straßenmagazin Cais, das zwar nicht an der Konferenz teilgenommen hat, verfolgt einen ähnlichen Ansatz: mit einer Upcycling-Werkstatt werden Magazinverkäufer:innen und arbeitslose Menschen beim Wiedereinstieg in eine geregelte Arbeit unterstützt (im Heft Nr. 598 berichteten wir darüber, Anm.).

Nichts über uns ohne uns!

Ein weiterer Fokus der Konferenz war die «Wertschätzung gelebter Erfahrungen», oder wie es die Londoner Initiative Art and Homelesness International zusammenfasste: «Nothing about us without us!». Die Initiative unterstützt Projekte und Künstler:innen rund um die Welt dabei, Kunst und Kreativität in die Obdachlosenhilfe- und politik zu integrieren. Ihr Ansatz besteht darin, Resilienz, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden durch partizipative Kunstprojekte zu fördern. Der Fokus dabei liegt auf dem Miteinander und nicht für oder über jemanden etwas zu tun. Bei der Zeitung Groundcover News aus Michigan werden ­Texte von Personen mit gelebter Erfahrung, also zum Beispiel von Personen, die auf der Straße gelebt haben, Texten von anderen Journalist:innen vorgezogen. In ihrem Schreibprogramm ermutigen sie Verkäufer:innen dazu, selbst die Beiträge der Zeitungen, die sie verkaufen, zu bestimmen und zu verfassen. Um Barrieren abzubauen, wird es Verkäufer:innen, die nicht selbst schrei­ben können, ermöglicht, ihre Texte mündlich zu formulieren. Hierauf wird aber auch in die andere Richtung wertgelegt: Da nicht alle Verkäufer:innen die klein gedruckten Texte in der Zeitung lesen können, werden diese von den Autor:innen selbst eingelesen und ein Podcast daraus produziert (Groundcover Speaks).
Von den Straßenzeitungen, die aus anderen Ländern nach England angereist sind, war Hus Forbi aus Dänermark die einzige Zeitung, von der auch Verkäufer:innen an der Konferenz teilnahmen. Die beiden Hus-Forbi-Verkäufer:innen erzählten von ihren eigenen Erfahrungen wie dem Verkauf der Zeitung und wie die dadurch gewonnene Struktur und Autonomie dazu beitrugen, dass sie ihre Leben, die ins Wanken geraten waren, wieder selbstbestimmter führen konnten. Bei Hus Forbi haben Verkäufer:innen in Form eines Verkäufer:innen-Rates Mitbestimmungsrechte in der Organisation. Denn bei ihnen gilt: «The vendor is the paper!» (Der:die Verkäufer:in ist die Zeitung!)

Narrative verändern

Zu meiner großen Erleichterung wurde das Thema Migration nicht – wie in aktuellen politischen Debatten zu häufig – als Problem thematisiert. Stattdessen verdeutlichte Zoe Gardner, unabhängige Expertin für Mi­grationspolitik, in einem Gastvortrag die Absurditäten von Politiken der Abschiebung der einen und gleichzeitiger Anwerbung anderer Migrant:innen als Arbeitskräfte im Vereinigten Königreich. Sie zeigte auf, wie in Debatten Angst vor den «falschen Ausländer:innen» gemacht werde, anstatt auf diejenigen wütend zu sein, die von den nationalen Abschottungsregimen profitieren, und sie unterstrich die Rolle des Straßenzeitungsnetzwerkes, diesem negativen Trend entgegenzuwirken. Straßenzeitungen könnten dazu beitragen, das Narrativ über Migration zum Positiven zu verändern, Geschichten über Migration aus vielfältigen Perspektiven veröffentlichen. Schließlich haben Straßenzeitungen potenziell eine besondere Expertise zum Thema Migration, nicht zuletzt, weil eine Vielzahl an Verkäufer:innen selbst Migrant:innen sind.
All diese Eindrücke und Inputs, die Beispiele aus anderen Zeitungen und vor allem der Austausch mit Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern, die trotz der nach rechts rückenden Gesellschaften ähnliche Werte vertreten, hat mich Vertrauen in das Netzwerk und seine Beteiligten fassen lassen. Und darin, dass Straßenzeitungen auch nach 30 Jahren – so alt ist der INSP und auch der Augustin nächstes Jahr – immer noch gut, immer noch wichtig sind. Uns fallen gemeinsam bestimmt Lösungen ein, um stark zu bleiben und die notwendigen Veränderungen durchzulaufen, um eine Anlaufstelle für von Armut betroffene Personen zu bleiben. Denn dieser Bedarf sinkt leider nicht mit den Verkaufszahlen. 

Oke Fijal ist beim «Augustin» für Fundraising und Spendenbetreuung zuständig.

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