«In Alterlaa scheint immer die Sonne»vorstadt

US-amerikanischer Realismus als Remix auf einem Dach vom Wohnpark Alterlaa (Filmstill: © Mischief Films)

Mit 27 Storeys ist der Wahlberlinerin Bianca Gleissinger ein witziger und (selbst-)reflexiver Dokumentarfilm über den Wohnpark Alterlaa, in dem sie aufgewachsen ist, gelungen. Obendrein erhielt ihr Kameramann Klemens Koscher den diesjährigen Diagonale-Preis für die beste Bildgestaltung. Ein Gespräch mit den beiden.

 

Kennen Sie das Bild «City Roofs» (1932) von Edward Hopper? Ich sehe ­nämlich Parallelen zum Filmplakat von ­«27 Storeys» (siehe oben).

Bianca Gleissinger: Nein, aber ich werde es mir gleich einmal anschauen, denn Sie sind nicht der Erste mit dieser Assoziation.
Klemens Koscher: Es war keine Inspiration. Wir haben uns zwar Dokumentarfilme angeschaut, aber keine Malerei.

Wie verlief die Vorbereitung in formaler Hinsicht bei den vielen Möglichkeiten, die Alterlaa bietet?

BG: Für mich war dieser Film vom ersten bis zum letzten Tag eine Suchbewegung. Ich hatte nicht nur ein strenges formales Konzept, sondern sehr viele. Ich bin froh, dass sich ein relativ rundes formales Bild aus dieser chaotischen Suchbewegung heraus ergeben hat.
KK: Einerseits das, andererseits hat es schon von Anfang an Fragestellungen ­gegeben: Wie werden Menschen in einem Raum porträtiert? Wie nahe kann man jemandem kommen? Dann gab es Fragen, ob wir alles am Stativ drehen oder Handkamera einsetzen? Viel oder ­wenig Bewegung? Und von Anfang an war klar, wir wollen Alterlaa nur aus menschlichen Perspektiven zeigen, d. h. keine Drohnenflüge oder merkwürdige Winkel. Die Wohnungen an sich sind handhabbar, aber das riesige Areal ist wirklich ein Komplex in sich. Die Herausforderung war, eine Geographie zu zeigen, damit sich Zuseher:innen auskennen.

Wie ist es zur Filmidee gekommen?

BG: Wenn ich in Deutschland erzählt habe, ich sei in einem Sozialen Wohnbau aufgewachsen, war die Reaktion: «Oh Gott, wie schrecklich!» «Hä, nein, das war richtig geil!» Dann habe ich immer Fotos hergezeigt. «Was, das ist Sozialer Wohnbau in Österreich!?» Aus diesen Erlebnissen heraus habe ich verstanden, dass Alterlaa ein spezieller Ort ist. Beim Mittagessen bei einer Produktionsfirma, bei der ich gearbeitet habe, habe ich von Alt­erlaa erzählt, Fotos hergezeigt und ­meinte ein bisschen lapidar, es würde mir Spaß machen, dort ein Wochenende mit der Kamera herumzugehen und ein kleines Projekt daraus zu machen. Am nächsten Tag kam die Produzentin auf mich zu und meinte, sie hätte mit ihrem Partner darüber gesprochen, sie würden diesen Ort lieben und es spannend finden, wenn ich dieses Projekt als Abschlussarbeit für die Filmhochschule (Berlin, Anm.) machen würde. Sie wären sofort mit an Bord.

Welche Reaktionen hat der Film in Deutschland hervorgerufen?

BG: Die erste Deutschlanderfahrung war beim Max Ophüls Preis. Es war unglaublich, wir hatten vier rappelvolle Säle, somit waren dort schon um die 1.000 Zuschauer:innen. Das Feedback war großartig. In Deutschland ist Österreich immer ein Gewinn, es gibt Vorschusslorbeeren.

Warum der englische Titel? Soll auch der nicht deutschsprachige Raum erobert werden?

BG: Es wurde ein Mosaik aus Geschichten und Stockwerken, und im Englischen ist Storey ein geflügelter ­Begriff dafür. 27 Storeys ist auch der ­erste ­Titel gewesen. All’ die Jahre habe ich mir ­gewünscht, dass mich die Muse küsst und ich einen urösterreichischen, großartigen On-point-Titel finde, das ist aber nicht passiert.

Im Film kommen nur weiße Menschen mit Deutsch als Muttersprache zu Wort. Sind sie repräsentativ für Alterlaa?

BG: Alterlaa ist ein weißer, hetero­sexueller Ort – und ein relativ alter. Aber was erzählt das über die Indivi­duen? Meiner Meinung nach gar nichts. Alterlaa ist deswegen weiß und heterosexuell, weil es sich mitten in Wien befindet. Alt­erlaa ist eine großartige Zusammenfassung, wie ich Wien wahrnehme.
KK: Es war eine große Aufgabe, ­jemanden aus einer anderen Altersschicht zu finden. Eher zufällig haben wir einen jungen Skateboardfahrer gefunden, bei dem wir drehen durften. Die Jungen sind nicht sehr präsent.
BG: Hinter vorgehaltener Hand wird gesagt, Alterlaa sei überaltert und ­würde nicht mit der Zeit gehen. Aber ich habe mich im Laufe der Zeit gefragt, warum muss er das? Viel wichtiger ist die Frage: Was ist das für ein Ort, an dem ­Leute gern alt werden? Der Querschnitt der Leute ist noch immer glücklich. Nicht, dass es keine Bewegungen von jungen Leuten gäbe – Denn die gibt es! Und sie schaffen und erkämpfen sich ihre eigenen Räume.

Neben dem Subthema Überalterung steckt im Film das Thema Emanzipation, besser gesagt, das Fehlen der Emanzipation.

BG: Die Ehepaare, die ich zeige, sind die Generation meiner Eltern. Für meine Generation typisch bin ich weggezogen und habe einen Haufen Vorwürfe meinen Eltern gegenüber aus Berlin mitgebracht und Debatten geführt. Als wir mit dem Schnitt angefangen haben, hat der Film eine falsche Richtung ­bekommen, wie eine große Anklage: «Schau mal, was die alles noch nicht wussten!» Das hat aber nicht funktioniert, das ­erste ­Problem ­dabei: Wie komme ich dazu, den Leuten zu sagen, was sie alles falsch ­gemacht ­haben. Das zweite Problem: Da sind ­keine traurigen Frauen gesessen. Das sind Frauen einer anderen Generation, die andere Entscheidungen getroffen ­haben, und sie blicken glücklich auf ihre Entscheidungen zurück.

Frau Gleissinger, wie haben Sie als ­Jugendliche Alterlaa erlebt?

BG: Ich war als Teenager irre viel nicht in Alterlaa. Mein Leben hat sich genauso wie für andere Teenager auch in der Stadt abgespielt. Aber ich habe Alterlaa immer geliebt. Ich habe bei mir wahrgenommen, dass ich viel, viel exzessivere und absurdere ­Identifikationsmomente (übrigens auch mein Bruder) mit dem Ort, wo ich wohne, als andere meines ­Alters habe. Der Gedanke, von dort weg zu müssen, wäre wie sterben zu müssen gewesen. Das war seltsam im Nachhinein betrachtet.

Wie ist die aktuelle Wohnsituation?

KK: Ganz anders als in Alterlaa. Ich wohne im vierten Bezirk in einem Neubau.
BG: Ich wohne in Berlin. Die Lage ist okay, zu zweit auf 49 m2, dunkle Wohnung, unfassbar teuer. Die Situation in Berlin ist schrecklich. 

 

Inside Alterlaa

Nach wenigen Filmminuten von 27 Storeys. Alterlaa – Forever schleicht sich das Gefühl ein, Bianca Gleissinger könnte sich zu viel von Elisabeth T. Spira und Ulrich Seidl abgeschaut haben. Doch es kann Entwarnung gegeben werden, die Absolventin der Filmhochschule Berlin macht nicht auf Sozialvoyeurismus, sondern kratzt noch eloquent die Kurve und begegnet den Bewohner:innen des wohl bekanntesten Wohnbaus von Architekt Harry Glück auf Augenhöhe.
Bianca Gleissinger ist im Wohnpark Alterlaa aufgewachsen und hat dort bis ins hohe Teenageralter gewohnt. Allerdings lebte sie schon rund zehn Jahre in Berlin, als sie dieses Dokufilmprojekt gestartet hat. Durch diese zeitliche und räumliche Distanz gelingt ihr ein spielerischer Wechsel zwischen Autobiografie und Blick von außen auf den riesigen Komplex und seine tausenden Bewohner:innen, die als größten gemeinsamen Nenner die hohe Wohnzufriedenheit ins Treffen führen. Egal ob Porschefahrer oder Hobbygärtnerin.
Trotzdem ist nicht alles eitel Wonne. Bianca Gleissinger erfährt von jungen Bewohner:innen, dass ihnen der viel beschworene Geist von Alterlaa am Allerwertesten vorbeigeht, und gar etwas ernüchternd wirken die Szenen zum Thema Emanzipation: Harry Glück verstand nämlich die Anbindung der Küche an den Wohnraum als emanzipatorischen Schachzug. Damals mitunter progressiv, jetzt, rund 50 Jahre später, blöderweise überholt.
Auch oldschool, aber im besten Sinne, ist die Kameraarbeit von Klemens Koscher. Er verzichtete beinahe weitgehend auf eine bewegte Kamera. Eine mutige Entscheidung, die dieser Doku in zweifacher Hinsicht guttut: Die Bilder sind in ihrer Einfachheit bestechend schön und sorgen darüber hinaus für einen ruhigen Gegenpol zur vitalen Erzwählweise. 27 Storeys ist für ein Langfilmdebüt ein sehr großer Wurf und wird dem schon geschichtsträchtigen Wohnpark gerecht.

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