In Theresienstadt schrieb Helga Pollak-Kinsky ein Tagebuch, aber ...
Während in Theresienstadt noch künstlerische Aktivitäten möglich waren, wurde das KZ Auschwitz zur großen Leerstelle in Bezug auf Schreiben und Sprache überhaupt. Mit Helga Pollak-Kinsky, die als Kind im Ghetto Theresienstadt Tagebuch schrieb, sprach Kerstin Kellermann.
Foto: Florian Fusco
Der englische Kinderpsychiater Donald Winnicott stellte während des Zweiten Weltkrieges fest, dass es den Kindern, die während der Bombenangriffe auf London bei ihren Eltern blieben, psychisch viel besser ging, als denen, die alleine auf das Land in Sicherheit geschickt worden waren. Wie war das bei Ihnen?
Ich fühlte mich sehr verlassen als kleines Kind. Nach einem schrecklichen Beginn in der Tschechoslowakei kam ich 1938 mit acht Jahren zu einer Familie Wittmann, die sehr lieb zu mir war, die mich verwöhnte und pflegte. Ich habe das aber nicht angenommen. Ich hatte nur Sehnsucht nach meinen Verwandten in Gaya (deutscher Name der tschechischen Stadt Kyjov, d. Red.). Dort war ich dann komischerweise gewillt zu bleiben, auch ohne Mutti und ohne Papa.
Das Thema Trennungen begann ja bereits mit der Scheidung Ihrer Eltern. Mitten im Ghetto Theresienstadt fragten Sie Ihren Vater Otto Pollak, warum Ihre Eltern sich scheiden ließen.
Er gab mir keine Antwort. Meine Mutter habe ich später überhaupt nicht viel gefragt. Ich wollte von der Vergangenheit nichts mehr wissen. Denn sonst wäre ich auch darauf gekommen zu trauern, nach meiner Tante, meinem Onkel und meiner Cousine Joschi, bei denen ich aufgewachsen bin. Ich lasse gerade eine neue Grabplatte machen, auf der sie alle verewigt sind. Im Alter arbeitet man das wirklich auf. Eigentlich fing die Aufarbeitung mit den Theresienstädter Freundinnen in den 1990er Jahren mit dem ersten Buch «Die Mädchen von Zimmer 28» an.
Ihr Theresienstädter Tagebuch war auf Tschechisch?
Ich konnte es später nicht mehr lesen, weil ich vergessen habe, wie Tschechisch geht. Denn nach dem Krieg bin ich nach England zu meiner Mutter und hatte niemanden, mit dem ich Tschechisch reden konnte.
Ist es für Kinder schwerer, mit den Eltern im Krieg zu sein oder alleine in Sicherheit?
Ich kenne weder das eine noch das andere. Mein Vater war eine große Stütze, aber er kam doch erst Ende 1941 ins Protektorat. Drei Jahre war ich ganz alleine. Wegen der Gefahr in Wien ab 1938, sagte mein Vater, in Kyjov bist du in Sicherheit. Das kann nicht lange dauern mit dem Hitler, meinte Papa. Aber es hat sehr lange gedauert. Mein Vater war Kriegsinvalide des Ersten Weltkrieges und er zog 1916 zur Rekonvaleszenz nach Wien. Mein Großvater hat in Wien maturiert.
Schrieben Sie Ihr Tagebuch so, wie Sie wirklich gedacht haben? Die Kinderpsychiaterin Alice Miller z. B. musste im Warschauer Ghetto ein falsches Selbst entwickeln, um zu überleben. Sie schreibt sehr viel über das «wahre» und das «falsche» Selbst.
Das im Tagebuch war schon ich, mein «wahres Selbst». Ich schrieb, worüber ich gerade Lust hatte zu schreiben. Immer erst am Abend, wenn man schon in den Stockbetten war. Ich glaube, mehrere Kinder schrieben Tagebücher, nur sind sie alle verschwunden.
Ihr Vater notiert, dass Sie beim Schreiben wie ein Bild gemalt haben. Wollten Sie nie Literatur schreiben?
Als ich endlich das KZ verlassen konnte, wollte ich nur ein normales Leben und nach vorne schauen. Ich kam nach England, konnte nicht Englisch, es gab immer wieder Hindernisse. Meine Mutter hatte kein Geld, dass ich studieren gehe. Ich dachte immer: Wie konnte ich meinen Vater so sitzen lassen! Aber ich wollte weg. Ich mochte Kyjov nicht mehr. Damals waren alle tot, es ist niemand zurückgekommen. Ich fühlte mich dort nicht zu Hause. Der Papa auch nicht. Weil er nur ein Bein hatte wegen des Ersten Weltkrieges, flüchtete er nicht vor Hitler. Nach dem Verlust seiner Familie, seiner Freunde und dem schönen Kabarett-Kaffeehaus Palmhof in der Mariahilfer Straße und dem KZ war er gebrochen, er wollte nichts mehr.
(zwiti) «Bangesein bedeutet Sehnsucht. Nicht Angst»
Ihr schöpferischer Anspruch war somit praktisch verschwunden?
Das war alles weg. Das Schreiben war auch weg, weil ich später nach Thailand ging, mein Mann war ein deutscher Refugee in Thailand. Bis 1957 lebte ich in Addis Abbeba in Äthiopien. Da gab es noch viele Falashas in den Dörfern, äthiopische Juden.
Mit Auschwitz, wohin Sie von Theresienstadt aus deportiert wurden, hörte sozusagen die Sprache auf. Ihr Vater schreibt ebenfalls nichts mehr ab dem Moment, als Sie nach Auschwitz deportiert werden. In Auschwitz hörte das Schreiben auf, oder?
Man konnte nicht, man hatte nichts. Nichts. Es gab ja nichts. Mein Vater hat mein Tagebuch versteckt.
Ab wann haben Sie dann wieder geschrieben? Als Sie aus Auschwitz nach Theresienstadt zurückkamen?
Ich habe nie mehr geschrieben. Das ist es ja: Bei vielen begabten Mädchen, bei denen man erwartete, dass aus ihnen etwas wird, war alles mit Auschwitz wegradiert. Für die Kinder, die es gut getroffen haben in England, verlief das Leben anders.
Es kommt stark heraus in Ihrem Buch, dass Auschwitz die große Leerstelle ist. Denn vorher in Theresienstadt gab es diese Bildung mit Theater und Musik, der Oper Brundibär, der Malerin Friedl Dicker-Brandeis, die euch in Zeichnen unterrichtete, und dann war es vorbei. Da war nichts mehr sozusagen.
Gar nichts. In Auschwitz habe ich eine etwas ältere Freundin gefunden, und das hat mir das Leben gerettet. Die nähte mir aus dem Mantelfutter ein Kopftuch. Ich habe ihren Namen vergessen und konnte mich nachher nicht bedanken bei ihr. Sie war so ein mutiges Mädchen. Wir haben sogar ein Inserat in die Zeitung gegeben, dass ich sie suche und niemand hat sich gemeldet.
Obwohl Sie sechs Monate mit ihr waren? Hat das auch mit dem Schreib- und Sprachverlust zu tun?
Meine Cousine wurde von einer Wiener Krankenschwester gerettet und konnte sich auch nicht an den Namen erinnern. Das ist ein Blackout. Ich könnte vielleicht noch nach den Nummern recherchieren.
Mir kam es vor, dass trotz aller dieser Selbstdisziplinierungs-Maßnahmen im Tagebuch, bei Ihnen das Fröhliche immer wieder durchdringt. Ihr Vater, der sehr nüchtern schreibt, notierte diese starken Gefühle. Krankheit und Lebensausbruch wechseln einander ab. Kinder haben oft dieses Euphorische. Aber Ihr Vater hat das auch in seinem Tagebuch, zum Beispiel, wie er diese Nacht ohne Wanzen beschreibt, die Nacht unter freiem Himmel. Was ich auch so erschütternd fand, war sein Anspruch, niemanden zu hassen, weil dadurch das Andenken der Toten entehrt würde! Von der Trauma-Therapie her sagt man, es muss nur punktuell schön gewesen sein, das reicht schon, dass man inneren Widerstand entwickeln kann. Die Malerin Friedl Dicker-Brandeis hat euch Mädchen sicher mit dem Zeichenunterricht in Theresienstadt punktuelle Sicherheit gegeben.
Das ist wahrscheinlich in Theresienstadt so gewesen. Friedl Dicker-Brandeis übergab unsere Bilder Ingenieur Groher, dem Leiter von dem Haus 410, der die Bilder gleich nach dem Krieg nach Prag in das Nationale Museum schickte und rettete. Später hat sich kaum jemand die Bilder zurückgeholt aus dem Museum. Ich auch nicht, nur auf CD-Rom. Diese Bilder muss man gut bewahren, denn die sind nicht auf Zeichenpapier entstanden, die mussten alle restauriert werden nach den Kommunisten, die die Bilder ausgeborgt hatten und ihr Zustand wurde immer ärger und jetzt sind sie unter Verschluß.
Sie hatten also wirklich durchgehend ihr Inneres?
Dass man sein Inneres hatte – trotz all’ der schrecklichen Sachen? Na sicher!
Aber unsicher war ich durch das ganze Leben. Ich hatte nie ein richtiges Zuhause, keinen Ort gehabt.
Das bange Gefühl fängt bei Ihnen aber schon weit vor dem Krieg an. Was bedeutet denn «Bangesein»?
Bangesein bedeutet Sehnsucht. Nicht Angst.
(info)
Helga Pollak-Kinsky: Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak, Herausgeberin Hannelore Brenner, Edition Room 28, 2014
Hannelore Brenner-Wonschik: Die Mädchen von Zimmer 28, Freundschaft, Hoffnung und Überleben in Theresienstadt, aufbau 2008