Gedichte aus Handarbeit
Lyrik zu veröffentlichen verträgt sich nicht mit marktwirtschaftlichen Interessen. Der Hochroth-Verlag setzt sich alternative Ziele. Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Fotos) haben die Wiener Dependance besucht.
Neben dem Schuhregal im Vorraum der Brigittenauer Mietwohnung steht ein Bücherständer. «Das Tolle daran ist», sagt Besitzerin Johanna Öttl, «dass man zur Abwechslung keine Wand anbohren muss.» Öttl führt barfuß, «des Babys wegen», ins Wohnzimmer, in dem ihre drei Verlagskolleg_innen Martin Berger, Katharina Gattermann und Daniel Terkl am Boden Platz genommen haben. Baby Karla steuert krabbelnd verschiedene Gegenstände an, um jedes Mal von einer Anfang- bis Mitte-30-jährigen Hand eingefangen zu werden. Auf dem Tisch liegen etliche dünne schwarze Büchlein aus. Durch einen im Deckblatt ausgestanzten Kreis lugt überall ein «h» hervor.
Kein Büro.
«Wir verstehen uns als Kollektiv», ist ein Satz, der schon während der Terminabsprache am Telefon mehrfach gefallen ist. Ein anderer wird nun am Tisch reihum wiederholt: «Und ich mache außerdem das, was sonst noch anfällt.» Der Hochroth-Verlag mit Spezialisierung Lyrik ist als Verein organisiert, jeder arbeitet hier ehrenamtlich. Auch deshalb gibt es kein Büro. Öttl, die Germanistik und Anglistik studiert hat, ist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Programm und Lektorat teilt sie sich mit Terkl, der hauptberuflich in der Alten Schmiede beschäftigt ist. Gefragt danach, was Lyrik gegenüber Prosagattungen auszeichne, sagt Terkl, während er durch Semier Insayifs Sonettenkranz herzkranzverflechtung blättert: «Es gibt kein anderes Genre in der Literatur, das es so leicht macht, ein vollständiges Werk in wenigen Minuten zu lesen. Für mich ist ein Lyrikband auch ein Gebrauchsbuch, in das man immer wieder hineinsieht. Bei jeder Lektüre erschließen sich andere Aspekte.» Dass er den Band hinterher zurück in eine formatgetreue Plastikhülle steckt, hat mit den Anfängen des Verlags zu tun.
«Marco Beckendorf, der Hochroth-Gründer, hat die Hefte zu Beginn in einem Bauchladen verkauft», berichtet Öttl. 2008, vor zehn Jahren, entstand der Verlagssitz in Berlin. Inzwischen haben sich selbstständige Dependancen in Bielefeld, Leipzig, München, Paris, Wien und Wiesenburg gegründet. Gemeinsam versteht man sich als Alternativmodell zu den großen und mittelgroßen Verlagshäusern. «Marcos Idee war», sagt Öttl, «dass die Möglichkeit, Bücher zu machen, nicht an ein großes Kapital, an große Räumlichkeiten und eine weite Infrastruktur gebunden sein sollte. Die Büchlein sollten in sehr kleinen Auflagen und an leicht zugänglichen Orten hergestellt werden.» Das wichtigste Arbeitsgerät des Kollektivs ist daher der vereinseigene Tintenstrahldrucker.
Handarbeit.
Die Wiener Hochroth-Produktionsstätte finde sich, so wird von den Anwesenden berichtet, im Wohnzimmer von Matthias Noe. Wie auch die ausgebildete Kommunikationsdesignerin Katharina Gattermann ist er ansonsten für Layout und Satz der Texte zuständig. «Wir drucken auf ein Papier, das im Hochroth-Kollektiv von allen verwendet wird», sagt Gattermann. «Die Blätter werden in die schwarzen Umschläge geklebt und mit einer Schlagschere auf das jeweilige Format zugeschnitten. Ganz am Ende stanzen wir den Kreis für das Logo aus. Das ist eine Konzentrationsarbeit.» 100 Hefte könne man zu zweit oder zu dritt an einem produktiven Sonntag herstellen, die meisten sind etwa 30 Seiten dick. «Mehr als 56 Seiten lassen sich nicht kleben», sagt Gattermann, «und durch den Din-A4-Druck stehen uns nur drei Formate zur Verfügung. Insgesamt ist es eine gute Mischung aus formalen Restriktionen und organisatorischer und inhaltlicher Freiheit.»
Erst-, Zweit- und Drittauflagen gibt es bei Hochroth nicht, stattdessen wird fortlaufend und nach Bedarf produziert. Mehr noch: Jedes Heft, das an einem der Standorte verlegt worden ist, kann durch den Zugriff auf einen gemeinsamen Online-Speicher an jedem anderen Standort produziert werden. «Ein Kollege berichtete einmal von Hochroth-Heften, die in einem Antiquariat für 100 Euro angeboten wurden», erzählt Terkl. «Das ist absurd, denn bei uns kann nie etwas vergriffen sein.» Wer über die Verlagshomepage bestellt, erhält fast jeden Band für 8 Euro. Auf der ersten Innenseite findet sich die eingestempelte Exemplar-Nummer. Diese dient der Abrechnung mit den Autor_innen, die 10 Prozent des Verkaufspreises, also 80 Cent pro Exemplar, erhalten. Ein korrekter, wertschätzender Umgang sei wichtig, sagt Terkl.
Welche Autor_innen es ins Verlagsprogramm schaffen, wird, natürlich, gemeinsam entschieden. «Wir richten uns in der Auswahl der Texte nicht nach marktökonomischen Prinzipien. Ob sich etwas gut verkauft, ob es gerade in ist oder nicht – das sind Kriterien, die uns nicht tangieren müssen», sagt Öttl. Entscheidend seien stattdessen ästhetische Vorlieben und individuelle Textqualität. Die Unabhängigkeit von Verlagsförderungen, die bei Hochroth Methode ist, gibt auch Freiheit in der Autor_innenauswahl. So erschien etwa 2016 der Renaissance-Text Sylva in scabiem/Wald aus Krätze von Angelo Poliziano, den Tobias Roth aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt hatte. «Das ist ein ungewöhnlicher Text», sagt Öttl, «denn er ist unglaublich wild und kaum zuordenbar.»
Überhaupt machen Übersetzungen einen beträchtlichen Anteil des Verlagsprogramms aus. Die Slowenin Anja Golob, die als einzige Frau zweimal den renommierten Janko-Preis zugesprochen bekam, veröffentlichte ihren ersten Gedichtband in deutschsprachiger Übersetzung, ab und zu neigungen, 2015 bei Hochroth Wien. «Für Anja war es von existenzieller Bedeutung, in einen größeren Buchmarkt, wie den deutschsprachigen, einsteigen zu können», sagt Öttl. Da die Hochroth-Bände, wie bei Verlagspublikationen üblich, ISBN-Nummern tragen und damit als eigenständige Publikationen gelten, habe eine Veröffentlichung schon einigen Lyriker_innen zu einem Literaturstipendium verholfen, sagt Terkl. Die Autor_innenautonomie, die Hochroth zum Prinzip erklärt hat, äußere sich im Lektorat und in der Rechtsfrage: An den Verlag geht lediglich das einmalige, nicht exklusive Abdruckrecht.
Analoges Erleben.
In Zeiten von lyrikline.org, fixpoetry.com und dem Instagram-Vierzeiler hält sich der Hochroth-Verlag bewusst abseits des digitalen Trubels und sozialmedialer Aufmerksamkeit. Die Frage danach, warum man keine E-Books verlege, können die Wiener Vertreter_innen nicht mehr hören. «Lyrik muss man anfassen, riechen, ablegen und mit sich herumtragen können», sagt Gattermann. «Im Bereich der E-Books ist man derzeit ästhetischen Beschränkungen unterworfen, die man aus den Anfängen des Webdesigns kennt. Außerdem mag es bei einem Roman vertretbar sein, wenn die Zeilenumbrüche sich je nach Bildschirmgröße verändern. Für Lyrik ist das unmöglich: Das kann den Rhythmus und den Sinn eines Gedichts zerstören.» Wer Lyrik schreibt und druckt, der braucht also Freiräume.
Im Schnitt würden 120 bis 140 Exemplare eines Bandes verkauft, sagt Terkl. Bei gelegentlichen Ausreißern: Der Band Texte für Denkende + gegen das Denk-Ende, der Texte des Wiener «Zetteldichters» Helmut Seethaler versammelt, war ursprünglich als Unterstützungserklärung an den Autor, dem ein Gefängnisaufenthalt drohte, gedacht. Schnell hat er sich zum relativen Bestseller entwickelt. Auch Anja Golobs Band steht bei weit über 600 verkauften Exemplaren. In ihrem Gedicht In die stummen Herzen der Blumen schreibe ich heißt es: «[Ich] schreibe in die Fensterläden der Zeit, in Arztbesuche, / in rote Blutkörperchen, in Tests für dies und das, in was wir beide tun, / […] manchmal auf das Schweigen zwischen uns, auf alles Vergangene, / Verbindende, ich schreibe auf Rhythmus, auf Takt, auf Erinnerungen […].»
Sprache und Materialität, das gehört zusammen, scheint das Hochroth-Programm immer wieder zu statuieren. Auch ein versehentlich falsch gestanzter Logo-Kreis im Deckblatt erinnert daran.