Die Donau lockt Spaziergänger_innen an ihre Ufer. Und manche auch in ihr Wasser. In dieser Zeit der großen Einschränkungen kommt ein neuer Trend auf: das Kaltwasserschwimmen.
TEXT UND FOTOS: WENZEL MÜLLER
Die Hallenbäder haben geschlossen. Die Freibadsaison ist noch in weiter Ferne und ohnedies ungewiss. Für Schwimm- und Badefreunde allerdings kein Grund zur Verzweiflung. Es gibt ja die Donau.
Ein Sonntagnachmittag.
Ein klarer, aber kalter Tag. Die Sonne scheint, der Wind bläst. Am Donauufer in Wien gehen unzählige Menschen spazieren, gut eingepackt in Winterkleidung. Direkt am Wasser ein Trupp von Leuten. Noch haben auch sie Jacke und Schal an, doch schon bald fangen sie an, die abzulegen, bis sie auf einmal nur noch in Badekleidung dastehen. Vorbeikommende Spaziergänger_innen trauen ihren Augen nicht und bleiben verdutzt stehen. Nicht weniger verdutzt bin ich. Zum ersten Mal habe ich mich den sogenannten Kaltwasserschwimmer_innen angeschlossen, den Eis- und Winterschwimmer_innen, wie sie auch genannt werden. Da stehe ich also im kalten Wind, nur mit einer Badehose bekleidet – und entgegen aller bösen Vorahnung ist mir überhaupt nicht kalt. Große Überraschung. Die erste Hürde ist genommen. Nun geht es an die nächste, nämlich in die Donau. Also voran. Von einem beherzten Sprung ins Wasser sehe ich ab, erstens wäre ich dazu ohnehin nicht in der Lage, zweitens wird davon abgeraten, weil sich der Körper allmählich an die Kälte gewöhnen sollte. Also erst einmal nur mit den Füßen hinein. Als ob plötzlich unzählige Nadeln auf sie einstechen würden, so fühlt sich das an. Gar nicht einmal unangenehm, eher ungewohnt. Langsam wage ich mich weiter hinein, das Wasser reicht mir bis zu den Waden, dann bis zur Hüfte, und dann geht erst einmal gar nichts mehr, eine neuralgische Schwelle ist erreicht. «Tief in den Bauch einatmen», rät mir Josef. Auch die Hände sollte ich jetzt einmal ins Wasser tauchen, um dieses speziell kribbelnde Gefühl zu erfahren. Da sind sie wieder, die unzähligen Nadelstiche. Josef redet etwas davon, allen Ballast abzuwerfen. Seine Stimme ist sanft und ermutigend zugleich. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und tauche mit dem ganzen Körper unter. Ein paar hastige Schwimmbewegungen, vollends vergesse ich nun die ruhige Atmung in den Bauchraum, ich schnappe nach Luft, dass es nur so eine Art hat, und im nächsten Moment bin ich wieder draußen, am rettenden Ufer, im Trockenen. Geschafft. Ein Lob kommt von Josef. Kurz war das Abenteuer, nicht einmal eine Minute lang, doch nun bin ich stolz wie Oskar. Und irgendwie glücklich.
Donaudurchquerung.
Während ich mich abtrockne, geht es für Josef erst richtig los: Mit anderen schickt er sich an, quer durch die Donau zu schwimmen und wieder zurück. Für ihn nichts Ungewöhnliches. Er, der die Ruhe und Ausstrahlung eines buddhistischen Mönchs hat, ist zugleich Extremsportler. Hat schon den Ärmelkanal durchschwommen und wird sich demnächst für drei Stunden in eine Eisbox begeben, um seinen mittlerweile gebrochenen Weltrekord zu verteidigen. Hier bei dem bunten Trupp ist Josef Köberl, 45, allerdings schlicht «der Josef». Der unumstrittene Meister, der sich überhaupt nicht als der große Meister aufspielt. Mehr als 3.600 Menschen, erzählt er, habe er schon ins kalte Wasser gebracht, «und alle kamen wieder heil heraus». Ein Sportler, der sich auch seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist: Im Jänner hatte er das traditionelle Vollmondschwimmen unter das Motto «Eisschwimmen gegen soziale Kälte» gestellt und fürs neunerhaus Spenden gesammelt.
Kaltwasserschwimmen hat eine lange Tradition. Angeblich hat schon Goethe im Winter das Eis der Ilm aufgehackt, um in den Fluss baden zu gehen. Pfarrer Sebastian Kneipp, dessen «Kneipp-Anwendungen» heute populärer denn je sind, ging das das ganze Jahr über in die Donau schwimmen. Und in Russland ist es Tradition, das orthodoxe Neujahrsfest am 14. Jänner mit dem Eintauchen ins kalte Wasser zu begehen.
Urbaner Trend.
Nicht dass Kaltwasserschwimmen bei uns ganz neu zu entdecken wäre, man denke nur an das traditionelle Neujahrsschwimmen etwa am Wörthersee, doch diese so rural anmutende Unternehmung ist dabei, mehr und mehr den städtischen Raum zu erobern. Hunderte sind es schon, die sich am Wochenende in die Neue oder Alte Donau begeben, an unterschiedlichen Stellen. «Eisbaden ist das neue Ausgehen», schrieb vor kurzem die Süddeutsche Zeitung. Corona mit seinen vielen Einschränkungen scheint diesen Trend zu befördern. Nach und nach verliert Kaltwasserschwimmen das Odium des Verwegenen oder Kuriosen.
Freiwillig und ohne Not setzen sich die Menschen einem Schock aus. Sie tauchen ihren knapp 37 Grad Celsius warmen Körper in ein Element mit deutlich niedrigerer Temperatur. In einem solchen Moment schaltet der Organismus auf Überlebensmodus um: Die Blutgefäße in den äußeren Körperbereichen ziehen sich zusammen, Finger und Füße werden kalt und das Blut flutet in die inneren Organe, um deren Funktion aufrechtzuerhalten.
Josef und einige Mitschwimmer_innen kommen von ihrer Donaudurchquerung zurück. Ganz rot ist ihre Haut. Bald fangen sie an zu zittern wie das sprichwörtliche Espenlaub. Für den Außenstehenden fast ein unangenehmer Anblick, erinnert er doch an einen Epilepsieanfall. Für Jürgen, einen der Betroffenen, allerdings nichts weiter als eine ganz natürliche Reaktion. So bringt sich der Körper wieder selbst auf Temperatur. Er zittert sich warm. Ein biologischer Mechanismus, den unsere moderne Zivilisation kaum noch kennt. «Erstaunlich, wozu der Körper fähig ist», sagt Jürgen. Gerade weil er beim Eisschwimmen ganz neue Körpererfahrungen mache, liebe er diesen Sport.
Höchstens 5 Grad.
Jürgen spricht von «Sport». Lange gibt es diese Sportdisziplin noch nicht, erst vor wenigen Jahren wurde der österreichische Eisschwimmverband ins Leben gerufen, dessen Präsident im Übrigen Josef ist. Seit 1999 werden Weltmeisterschaften im Eisschwimmen ausgetragen, und aktuell laufen Bestrebungen, den Sport auch als olympische Disziplin zu etablieren. Für Wettkämpfe im Eisschwimmen ist eine Wassertemperatur von höchstens 5 Grad Celsius vorgeschrieben. Viele, die an diesem Nachmittag ins Wasser gehen, haben mit Sport weniger am Hut. Sie suchen eher die Herausforderung, den Kick, das Vergnügen.
Vergnügen? Was von außen ganz nach Marter und Selbstkasteiung aussieht, ist für viele Kaltwasserschwimmer_innen ein Weg – zum Glück. Ich erlebe die wieder aus dem Wasser kommenden Menschen als durchweg euphorisiert. Wie wenn eine schwere Last von ihnen gefallen wäre. Josef erklärt das Phänomen damit, dass es beim Kaltwasserschwimmen zu einem Ausstoß von Adrenalin, Dopamin und ähnlichen Substanzen komme. Für ihn eine Möglichkeit, «negativen Stress in positiven Stress umzuwandeln».
Kaltwasserschwimmen – eine Art Jungbrunnen? Schon gibt es Gurus, die das Kaltwasserschwimmen als Allheilmittel gegen jede mögliche Form von Erkrankung propagieren. Dagegen führen die auf Evidenz pochenden Bedenkenträger_innen ins Feld, es gebe diesbezüglich noch nicht ausreichend valide Studien. Den einen wie den anderen ist zu misstrauen, weil sie beide von dem Menschen ausgehen, als gleiche ein Mensch genau dem anderen, aber just das trifft ja nicht zu, daher verbieten sich pauschale Aussagen.
Kein Guru.
Josef hat keinen missionarischen Drang. Er möchte niemanden bekehren. Menschen mit hohem Blutdruck und Herzbeschwerden rät er eher vom Kaltwasserschwimmen ab. Und allen zu dieser Vorsichtsmaßnahme: nie alleine ins Wasser gehen. Und nach Möglichkeit immer eine (aufblasbare) Rettungsboje bei sich haben.
Nach dem kalten Bad einen heißen Tee aus der Thermoskanne. Manche aus dem Trupp nehmen auch einen Schluck aus dem Flachmann. Worin, frage ich einen erfahrenen Eisschwimmer, unterscheidet sich für ihn das Baden im Sommer von dem im Winter. Seine Antwort: «Ersteres mache ich mit vielen Freunden, Letzteres mit wenigen Freunden.»