In der Mitte der Gesellschafttun & lassen

Sachbuch: Reportagen/Porträts

Monsieur L. (Name geändert), 63, wohnhaft in Biel, unverheiratet (was nicht stimmt), von Beruf Kaufmann, war nie ein großer Schaffer, aber gewissenhaft und freundlich immerzu. Als er mit vierzig keine ­Arbeit mehr fand (erst Pech, dann Depressionen), begann er sich dafür zu hassen.» ­Monsieur L. landet «am Rand». Am Rand, damit meint der Autor und Fotograf Klaus Petrus nicht zwingend ökonomische Verdrängung; sondern eher ein Gefühl von Scham, das sich breitmacht aufgrund des Weges, den man einschlug, vielleicht einschlagen musste. Und der aus der Mitte, der Anerkennung, an den Rand führte.
Eine Protagonistin leidet an Schizophrenie und wurde in der Krankheit straffällig gegen ihr Kind. Eine Person ist dick, fühlt sich unwohl damit und empfindet das ­Gerede von «body positivity» als Hohn. Mehrere Porträtierte sind ­alkoholabhängig. Manche haben Gewalt erlebt und gehen ­unterschiedlich damit um. Aber manche haben auch einfach nur seltene ­sexuelle ­Interessen und wollen lieber nicht mit echtem Namen aufscheinen. Ein ­Potpourri an Personen, die sich in einem an und für sich durchschnittlichen Leben ein paar Auffälligkeiten leisten. Und die, so die Idee des Autors, darum Gefahr laufen, in Gruppen zusammengefasst und mit ­Vorurteilen abgetan zu werden. Dagegen geht Petrus mit seinen Porträts – die meisten davon ­erschienen in der Schweizer Straßenzeitung Surprise – vor. Ein kleiner, adretter Band, dessen wuchtiger Preis ­einzig am ­monetären Gefälle zwischen Bern und Wien liegen kann.

Klaus Petrus:
Am Rand. Reportagen und Porträts
Christoph Merian Verlag 2023
192 Seiten, 29 Euro