Erkenntnisse nach vier Wochen Augustin-Testverkauf
Früher war sie Sozialarbeiterin des Augustin, heute arbeitet sie im administrativen Bereich: Evi Rohrmoser schlüpfte einen Monat lang in die Rolle einer Augustin-Verkäuferin. Ungeplant wurde das Tagebuch ihres Testversuchs, das wir hier stark verkürzt wiedergeben, zu einer Hommage an jene clochardesken Urgesteine, von deren Erzählungen das Sozialprojekt wie das Medium namens Augustin nimmer noch zehren.
Foto: Mario Lang
22. 3. 16
Gestern war Verkäufer_innen-Stammtisch – und irgendwann wurde Gewalt auf der Straße ein Thema. Speziell Frauen machen diese Erfahrungen. Weil aber auch Männer von Haus aus ein Problem haben, wenn sie zugeben müssen, «bedürftig» zu sein, wissen auch sie, wie es ist, im öffentlichen Raum soziale Abwertung zu erfahren. Für mich stellt sich die Frage, ob ich als Mitarbeiterin der Administration im Augustin-Team nicht einen ziemlich naiven und/oder hochmütigen Blick auf die Realität der Zeitungskolportage habe. In meinem Kopf entsteht ein Plan: Ich werde Augustin verkaufen! Der Plan bleibt zunächst geheim. Auch meinen Kolleg_innen erzähle ich jetzt noch nichts, so schaffe ich mir ein «Hintertürl»: Ich kann auch noch jederzeit aussteigen – und nichts passiert.
6. 4. 16
Ich kann nicht schlafen. Meine Gedanken drehen sich um mein Projekt. Wo sollte ich denn mein Platzerl wählen? Wann soll ich denn am besten verkaufen, damit sich der Verkauf in meinen Alltag integrieren lässt? Der Platz soll auf dem Weg zur Arbeit sein. Was liegt denn da auf der Strecke? U1 Reumannplatz? Da steht schon wer. Keplerplatz? Auch besetzt. Hauptbahnhof? Der Augustinvertrieb ist dort verboten, und ich fühl mich nicht sicher genug, um mir einen Platz zu erstreiten.
9. 4. 16
Brauche ich eine konstruierte Biografie? Was ist, wenn die Kund_innen was von mir wissen wollen? Also eine Biografie, aber welche? Kein Armes-Mädchen-Klischee. Selbstverschuldeter Absturz. Aber wie? Alkohol? Eine Selbständigkeit, die schief gegangen ist? Schulden? Drogen? Hab ich Familie? Bin ich allein?
10. 4. 16
Wieder mal grüble ich zu später Stunde. Leute ansprechen ist nicht gerade meine Stärke, eigentlich bin ich schüchtern. Ich kann gut kommunizieren, wenn Menschen auf mich zukommen, aber selber ansprechen? Vielleicht soll ich es doch lassen. Wenn i c h mich schon so anscheiße, wie geht es Verkäufer_innen, die die Wiener_innen nicht einschätzen können, weil jede Erfahrung mit ihrem Gehabe fehlt? Ich muss es versuchen!
14. 4. 16
Wir hatten heute Teamsitztung„ Was gibt’s vom Stammtisch Neues?, wollen meine Kollegas wissen. Ich bin überrumpelt, und in solchen Situationen sag ich, was mich gerade beschäftigt: «Ich überlege, ob ich nicht versuchen soll, Augustin zu verkaufen.» Jetzt ist es gesagt, wollte ich das wirklich? Ich werde befragt, was ich anziehe. Mit oder ohne Ausweis? Später, wieder einmal schlaflos im Bett, frage ich mich, warum ich mir was anderes anziehen soll. Ich möchte als ICH verkaufen. Viele Verkäuferinnen und Verkäufer sind viel schicker als ich angezogen. Ein anderes Outfit würde nur meine Unsicherheit erhöhen. Warum bin ich überhaupt so unsicher, ich kann ja in mein gesichertes Leben zurück!
15. 6. 16
Ein neuer Platz ist aufgetaucht. Der Matzleinsdorfer Platz liegt direkt am Weg zur Arbeit! Oben Schnellbahn mit Bäckereien, das hört sich doch gut an, es ist hell, man sieht den Tag. Oder ein Stockwerk drunter, Menschen von drei Seiten, Stationsaufsicht gleich daneben. Oder noch weiter unten, dunkel, Zugang von den unterschiedlichsten Straßenbahnen. Der Matzleinsdorfer Platz ist ideal! Da hab ich die totale Auswahl – stelle ich mir vor. Aber das Areal ist groß. Wo ist der beste Verkaufsplatz? Oben bei der Schnellbahn? Allein die Vorstellung, immer beobachtet zu sein, ist nix für mich. Vielleicht doch unten, aber da ist die Stationsaufsicht, und auch diese Kontrolle fühlt sich allein in der Vorstellung schon nicht gut an. Es wird wohl ein Platz ganz unten sein, da ist ein langer Gang, da sind unterschiedliche Auf- und Abgänge, unterschiedliche Menschenströme. Moment, sitzt in dem Gang nicht immer wieder auch ein Bettler? Wie könnte meine Begegnung mit ihm ausschauen? Wie begegnen wir uns auf Augenhöhe? Eigentlich brauchen wir uns nicht in die Quere kommen: Betteln und Verkaufen sind unterschiedliche Tätigkeiten. Wenn mir Kund_innen nur Geld geben wollen, würde ich es ablehnen. Über Trinkgeld würde ich mich freuen. Das wird mein Zugang sein. Sehr gut. Mal schauen …
20. 4. 16
Ich bin gekleidet wie immer, geschminkt wie immer, aufgeregt wie vor einem Theaterauftritt. Tief durchatmen und runter in den langen Gang. Moment: Wo sind die Entwerter? Darf ich da überhaupt verkaufen? «Guten Morgen!» Das ist mein Auftritt. Ich lächle wie ein Honigkuchenpferd, bin stolz auf mich, stelle Blickkontakt her, sehe und werde gesehen. Viele erwidern meinen Morgengruß. Relativ wenige Menschen ignorieren mich komplett. Völlig ungefragt kommt ein Mann auf mich zu und will eine Zeitung, Panik! Was zuerst? Wechselgeld? Zeitung? Danke? Pfuh, Stress! Geschäft abgeschlossen! Meine erste Zeitung ist verkauft und 50 Cent Trinkgeld. Noch eine Viertelstunde, dann muss ich in die Arbeit.
21. 4. 16
»Einen Augustin vielleicht?», bleibt der Standardsatz. Ein ziemliches Gewirr an Straßenbahnauf- und -abgängen. Ich kann mich nützlich machen: »Brauchen sie Hilfe?» «Zur Schnellbahn? Rauf und nochmal rauf!» Kurz vor dem Ende meiner Schicht erkenne ich eine Bekannte von vor 25 Jahren. Kindergruppenzeit. Sie lächelt, geht vorbei, hat sie mich erkannt?
25. 4. 16
Montagmorgen, mein Platzerl ist mir schon vertraut, das ist gut, denn Müdigkeit braucht Routine. Ich merke, dass ich eigentlich nur Guten Morgen sage und Blickkontakt suche. Ich fürchte, das ist zu wenig. Ich versuche: «Der Augustin, unabhängig, subventionsfrei und fair». Das klingt nicht so schlecht, finde ich. Erfolgsstorys schauen anders aus. Ich packe nach einer Stunde alle mitgebrachten Zeitungen wieder ein und fahre in die Arbeit. Stimmt es was einige Verkäufer_innen sagen: Der Montag ist ein Scheißtag!
26.4.16
Gleich in der ersten Viertelstunde verkaufe ich zwei Zeitungen mit dem Hinweis, dass es morgen den neuen Augustin gibt. Könnte ich singen, würde ich das vermutlich tun, zum einen tut es selber gut und macht mich positiv gestimmt, und zum anderen kann man ja sonst nicht wirklich was tun. Insgesamt verkaufe ich vier Zeitungen, habe ein paar nette Begegnungen. Ein Mann, der den Augustin bereits erworben hat, will mir Geld zustecken. Ich lehne ab. Ich frage mich bei der Fahrt in die Arbeit, ob ich auf «Nur Geld» auch verzichten würde, wenn sich meine Tätigkeit auf Not und nicht auf ein Experiment gründen würde. Ich weiß es nicht.
2. 5. 16
Lieber würde ich heute schwänzen, ich bin müde, unlustig, irgendwie gaga. Aber ich raffe mich auf. Etwas verspätet bin ich am Matzleinsdorfer Platz. Ich bin maulfaul. Auch die Passant_innen sind keine Stimmungskanonen. Vermutlich eine Wechselwirkung. Plötzlich kommt der ehemalige Steuerberater des Augustin vorbei, erkennt mich, bleibt stehen. Wie es mir geht, wie es ihm geht. Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass ich nur einen Versuch mache, es würde meine Unsicherheit mit einem Satz beenden. Aber er fragt nicht. Ich kläre ihn nicht auf.
4. 5. 16
Als Augustin-Verkäuferin stehe ich in meiner Verkaufszeit praktisch auf einer Bühne. Es ist meine Aufgabe, die Passant_innen zu unterhalten, darauf muss ich mich vorbereiten, die Energien dafür bereitstellen. Das ist mir am Montag deutlich geworden, einfach nur hinstellen ist verlorene Zeit und Energie. Heute bin ich vorbereitet, gut drauf, trotz Regenwetter. Mein Spruch des Tages: «Einen Augustin fürs lange Wochenende oder als Muttertagsgeschenk». Zumindest ein paar Grinser sind die Folge.
17. 5. 16
Mein letzter Tag. Eigentlich bin ich erleichtert, aus mehreren Gründen. Erstens wird mir bewusst, dass ich mit dem Verkauf mein Überleben nicht sichern könnte. Zweitens hat es mich wahnsinnig viel Energie kostet, mich jeden Tag aufs Neue zum Freudeverbreiten motivieren zu müssen. Drittens habe ich ein bissl das Gefühl, die Menschen, die mir am Matzleinsdorfer Platz wohlgesonnen waren, angelogen zu haben. Sie sind von meiner Not ausgegangen, wollten mich unterstützen. Das Gefühl wird verstärkt, als mir eine Frau einfach nur fünf Euro geben will, ich diskutiere mit ihr und sie sagt mir, dass sie bewundert, dass ich jeden Tag dastehe. Sie habe heute Geburtstag und wolle mir deshalb das Geld schenken. «Dann schenke ich Ihnen einen Augustin zum Geburtstag!» Sie nimmt ihn, und damit haben wir uns beide beschenkt. Ich verlasse den Platz nicht wehmütig, nein, ich bin heilfroh, dass ich nicht in Not bin!
Versuch eines Resümees
Der Stolz, über den ein ehemaliger Verkäufer berichtete, der vor seiner Augustin-Tätigkeit bettelte, ist für mich nachvollziehbar. Denn für die Leute der ersten Stunde, die Sandler_innen, war der Verkauf des Augustin ein Aufstieg, nachdem sie zuvor als Taugenichtse, Sozialschmarotzer, Arbeitsscheue beschimpft worden waren. Der Augustin ermöglichte ihnen zum einen, ihren Blickwinkel sichtbar zu machen, und zum anderen, zu «beweisen», dass sie doch «der Arbeit» unter bestimmten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen nicht abgeneigt waren. Ich glaube, selbst Asylsuchende und Notreisende empfinden ihre Ankunft beim Augustin als Aufstieg: vom nicht registrieren Verkauf zur anerkannten registrierten Verkaufstätigkeit mit all seinen Vorteilen (Bonuszeitungen, Platzsicherheit, Erholungskaffee im Vertriebsbüro …). Bei mir stellte sich nicht Stolz ein, sondern Leere.
Das größte AHA-Erlebnis: Der Augustin scheint immens bekannt zu sein in Wien. Die Vorarbeit dafür haben zu einem Großteil die «Sandlerkönige und -königinnen» geleistet. Sie haben den ersten Kund_innen die Geschichte des Augustin erzählt, und davon konnte ich noch heute, 21 Jahre später, profitieren. Jede_r Einzelne von ihnen ist für mich ein_e Held_in.
In meiner Verkaufstätigkeit vom 20. 4. bis 17. 5. habe ich ganze 16 Zeitungen verkauft. Ein Stundenlohn von ca. 1,95 Euro ohne Trinkgeld und ca. 3,80 Euro mit Trinkgeld. Aber bedrückender als dieser materielle Misserfolg ist die Erkenntnis, dass mein Monatsexperiment ans Eingemachte meiner Identität ging. Ich hatte das Gefühl, als Person, die sich im Alltag über ihre Energien, Kompetenzen und Fähigkeiten zufriedenstellend definiert, zu verschwinden. Ich fühlte mich schutzlos den Zuschreibungen meiner ahnungslosen Kund_innen ausgeliefert. Ich kann nun wahrscheinlich nachempfinden, wie gewaltig der emotionale Aufwand ist, der von wirklich aus der Bahn geworfenen Verkäufer_innen gefordert wird – die von meinem Privileg, nicht länger als eine Stunde pro Tag Kolporteurin zu sein, nichts ahnen.