Paris und die Banlieues, aufgelodert 2005 in sozialer Wut aus einer Machtlosigkeit heraus, schienen so lange her
Außerdem waren die damaligen Barrikaden und ausgebrannten Geschäfte und Autos, quer übers ganze Land verteilt, nur eine Vorhut der kommenden Kämpfe ohne Programm und Chancengleichheit. Dann kam 2007 wenig überraschend, aus Amerika die Wirtschaftskrise und die flächendeckende Plünderung der Staatskassen zur Rettung maroder Unternehmen.Überhaupt widersprach das der Logik des Marktes, deren Verfechter, wie noch zu Schulzeiten gelernt, stets beteuert hatten, im Gegensatz zur Planwirtschaft die unprofitablen Betriebe nicht zu stützen, um Misswirtschaft zu vermeiden und das gute Konkurrenzleben, also Freiheit und Erfolg, zu bringen. Nach ein paar individuellen, unbedingt nötigen Opferlämmern unter den Managern legte sich das populäre Gesuse von der Ungerechtigkeit eines Systems, das private Interessen praktisch über jene der Allgemeinheit gestellt hatte. 2008 versuchte man international abzulenken von den zugedeckten sozialen Problemen, die daheim fortbestanden, und lenkte medial mit der wackligen Unabhängigkeit Kosovos oder dem Georgienkrieg pünktlich zur Olympiade die Gedanken wieder ins Nationale. Aber wie von selbst gravitierte die öffentliche Meinung anderswohin, zurück zum Sozialen. Der moderne Staat war werbefachmännisch mit dem Wohlstand wohl gestanden, später mit der Wohlfahrt eine Zeit lang wohl gefahren und trotzdem zuletzt nicht im massenhaften Wohlgefühl aufgegangen. Die Schule hatte nämlich nie so recht erklärt, warum sozial ein Riss ging durch die Welt, sondern bloß, dass zwei mal zwei vier wäre und 1989 wohl alles im Lot, wie auch die meisten Medien bestätigen könnten, wenn sie wie Glucksmann und Lévy zum Beispiel wiederkauten, was das richtige Lager der Geschichte denn konkret bedeuten würde. Doch der Spielraum der Politik wurde umso enger, je größer die Abhängigkeit von der Privatwirtschaft war.
Da waren zunächst die verschiedenen, immer gleichen Treffen in Europa und 2009 ein einschlägiger Klimagipfel in Dänemark, wo präventive Massenverhaftungen bei Minusgraden, sprich, von Hunden bewachte und in Reihen sitzende, aber selbstverständlich gefesselte Zivilisten eine Vorahnung der politischen Entwicklungen erlaubten. Anschließend 2010 waren, nebst BP-Erdöldesaster und dem bereits abgehakten humanitären Gau in Haiti, da auch noch gewöhnliche Demonstrationen in Albanien gegen die Regierung, fast schon gewohnheitsmäßige Generalstreiks in Griechenland und hier wie dort Verletzte unter den Demonstranten und leider einige Tote in Tirana. Im Handumdrehen folgte 2011, nach einer Veröffentlichung der Bankdaten Ben Alis durch Wikileaks, eine Erhebung in Tunesien, ein Aufstand in Bahrain in unmittelbarer Nachbarschaft der 5. US-Flotte, die dort trotz hunderten Toten nicht eingriff, eine halbvollendete Rebellion in Ägypten, ein Aufflackern von Stammesfehden im erdölreichen Lybien samt NATO-Einsatz, kurz, ein arabischer Frühling, wie man boulevardpoetisch zu sagen pflegte. Man streute, wie gesagt, selektiv auch den Krieg als falsche Freiheitswürze in die ganzen Geschehnisse.
Davor war ja noch europäischer Winter, an welchem von der Reform der Finanzarchitektur zwar gefaselt wurde, ohne jede Nacharbeit jedoch, als bestenfalls auf der Akropolis ein irgendwie anachronistisch wirkendes Banner an die Völker Europas appellierte, sich doch bitte zu erheben: gegen den Verlust der Souveränität an Währungsfond und Banken! Die Versprechen der Politik, an den Marktregeln etwas wirklich Wesentliches zu ändern, waren schnell vergessen, ebenso die Bedeutung von Wikileaks für die politische Frühlingsbrise, geschweige denn der zwielichtige Umgang mit Assange, dem Wikileaks-Gründer, oder mit dem Soldaten Bradley Manning. Stattdessen laberte man begeistert in den scheinbar gleichgeeichten Medien von der großartigen Bedeutung des Facebook für das Revoltenlüftchen wobei sich von der amerikanischen Risikokapital-Beteiligungsgesellschaft Accel Partners über Microsoft bis zur russischen Investmentfirma Digital Sky Technologies übrigens alle mit dessen Aktien und Gewinnen eindeckten. Und ständig hörte man einerseits Meldungen von gleichhohen Bonizahlungen und andererseits von der Wichtigkeit der finanziellen Rettungsschirme, aber ohne die Macht der Privatwirtschaft, ihrer Rating¬agenturen und Spekulationssünder so zu thematisieren, dass Veränderung endlich zum Thema würde: etwas Anderes eben anstatt das Gleiche nochmal, oder Schlimmeres sogar. Inzwischen forderten zigtausende Empörte in Spanien sozusagen echte Demokratie, eine also, die sich auf das Ökonomische auszuweiten hätte, ehe sie als unbescholtene Staatsbürger niedergeknüppelt wurden und den arabischen Regimen zumindest ähnlich vom Zutritt zum Madrider Hauptplatz durch Uniformierte abgeschnitten wurden. Immerhin war es ihr Land, ihre Hauptstadt, ihr Sonnenplatz. Dann passierte, wie schon 2010 im krawallreichen Grenoble, in England plötzlich wieder ein Toter, Vater dreier Kinder, wiederum ein Anlass für die sozial Ausweglosen und Ärmeren, in Gewaltausbrüchen auf sich aufmerksam zu machen, wodurch zuerst London, dann mehrere Städte wie Liverpool und Birmingham in Unruhen ausbrechen und lichterloh brennen, mit nochmals einem Toten als vorläufige Bilanz der Straßenschlachten.
Interessant ist der Umgang mit alledem. Dort, wo die arabische Jugend gegen die Bereicherung ihrer politischen Elite und der sie stützenden und schützenden Klasse tatsächlich aufbegehrte und physisch Widerstand leistete, waren keine Frage! sofort bürgerliche Tugenden und sonstige Heldentaten gewittert. Hingegen, wo die europäische Jugend ins gleiche Flußbett trat, waren andere Maßstäbe angeblich angebrachter, und daher nannte man diese einfach Randalierer. Die Medien hatten womöglich diese Umwertungen von Sarkozy gelernt, der die aufgebrachten französischen Vorstädter einst als Unrat bezeichnet hatte und ihre Gegengewalt schlicht als Randale. Im Nordkosovo zumindest, wo Zivilistenhaufen Blockaden errichten, während die NATO unter deutscher Führung sie Kriminelle heißt, zieht diese Masche noch; man versteht ohnehin nicht allzu viel davon. Die politische Zentrifuge aber, die die Gesellschaften nun in Bewegung versetzt, war nie etwas Anderes gewesen als sozialer Sprengstoff. Und schon munkelt man, einer tragischen Schicksalsgemeinschaft gleich, vom möglichen Börsenzusammenbruch, und zwar neuerdings, welcher mit alledem nichts zu tun hat? Was für ein bewölkter Sommer 2011 muss das sein, wenn die europäischen Massen hypnotisiert auf ihr Mokieren, Teil 2, warten!