«In Raserei versetzt»vorstadt

Die sonntägliche Frage: gebügeltes Hemd oder Vereinsschal?

Kirche und Fußball, Religion und Säkularreligion: Diese beiden Welten haben mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Von Wenzel Müller (Text und Fotos).Es ist Frühling, ein Sonntagvormittag. Die Sonne scheint, und die Vögel zwitschern. Herrlich!, denkt Herr Förderer. Eine Woche Arbeit liegt hinter ihm, und am Sonntag sollst du bekanntlich ruhen. Heute lässt er andere für sich arbeiten. Das Bier in der Hand, schaut er nach unten, aufs Spielfeld, und da rennen sie, rackern, grätschen, dribbeln. Die Fußballer geben alles. Herr Förderer ist zufrieden.

Der Favoritner Fußballclub pflegt seine Heimspiele am Sonntagvormittag auszutragen. Eine Einheit aus Frühschoppen und Sportevent. Zu Mittag ist jeweils Schluss. Wenn Herr Förderer nach Hause kommt, steht der Sonntagsbraten bereits auf dem Tisch. So fügt sich eins zum anderen.

Für Herrn Förderer ist der Stadionbesuch ein ebenso fixes sonntägliches Ritual wie für andere der Kirchgang. Auf den ersten Blick scheint es zwischen diesen beiden Welten kaum einen größeren Kontrast zu geben. Schaut man allerdings genauer hin, entdeckt man so manche Gemeinsamkeit.

Das fängt schon damit an, dass sowohl der Pfarrer mit seiner Predigt als auch die Schiedsrichterin mit ihrem Anpfiff pünktlich beginnen, und nicht erst dann, wenn die letzten Besucher_innen eingetroffen ist. Die Oberen bestimmen, und die Schäfchen haben sich zu fügen.

Gerade auf dem Land bedeutet ein Kirchgang noch für viele Leute, ein gebügeltes Hemd anzuziehen. Gerade dies tun die Stadiongänger_innen nicht. Doch auch unter ihnen gibt es etliche, die ihre Kleidung mit Bedacht auswählen. Die eine legt sich einen Vereinsschal um, der andere holt seine emblemgeschmückte Jeansjacke aus dem Kasten, sinnigerweise Kutte genannt. So tun Kirch- wie Stadiongänger_innen nach außen kund, wohin es sie zieht.

Ein Spiel dauert 90 Minuten. Eine der ewigen Fußballweisheiten. Auch der Gottesdienst folgt einem vorgegebenen Ablauf. Der Rahmen ist also hier wie dort immer gleich, doch innerhalb dieses Rahmens ist alles möglich. Die größten Freuden und die größten Erschütterungen. Denn jedes Spiel ist wieder anders, und so auch jeder Gottesdienst.

Plötzlich landet der Schuss aus 30 Metern haargenau im Kreuzeck. Auf einmal findet der Pfarrer Worte, die die Gemeindemitglieder im Innersten berühren. Man weiß nie im Voraus, was geschehen wird. Außer dass nach dem Spiel/Gottesdienst vor dem Spiel/Gottesdienst ist.

Wo wird heute noch gesungen? In den Familien immer weniger. Doch in der Kirche und auf dem Fußballplatz, da wird das Liedgut noch gepflegt. Hier «Sha la la» oder «You’ll never walk alone», dort «Großer Gott, wir loben dich». Intoniert von Leuten, von denen manche ihr Lebtag noch nie eine Note gesehen haben. Macht nichts, schließlich kommt es hier nicht darauf an, den richtigen Ton zu treffen. Vielmehr zählt die Überzeugung, der Glaube, die richtige Gesinnung.

Fan, das Wort kommt vom lateinischen «fanaticus» und bedeutet «von einer Gottheit in Entzückung, in Raserei versetzt». Im Stadion hat dieser Verzückte seinen festen Platz in der Südkurve, wie die Großmutter ihren in der Kirchenbank, dort, wo seit Ewigkeiten ihr Sitzkissen am Haken hängt.

Wie man hört, sind etliche Spieler_innen recht abergläubisch. Immer als Erstes den rechten Stutzen anziehen, dann erst den linken, nie umgekehrt, sonst folgt unweigerlich das Unheil auf dem Fuß! Manchmal sind sich Religion und Säkularreligion ganz nah: Die Fangemeinde von Rapid Wien hat einen eigenen «Fußballgott»: Steffen Hofmann.

Im Burgenland, in dem kleinen Ort Königsdorf, grenzt die Kirche direkt an den Sportplatz. Auf Schalke ist man quasi einen Schritt weiter, hat beim Neubau des Stadions einen Gottesdienstraum, die Arenakapelle, in das Oval integriert. Kirchen- und Stadionbesuch lassen sich so problemlos kombinieren. Unvergessen auch, was Schalke-Fans, in Verehrung ihres legendären Flügelstürmers, einst auf die Mauern ihres Stadions gepinselt hatten: «Keiner kommt an Gott vorbei. Außer Libuda.»

Herr Förderer ist im Übrigen auch regelmäßiger Kirchgänger. Die Heimspiele seines Favoritner Clubs finden ja nur alle zwei Wochen statt.

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