In Seenottun & lassen

An Bord der Sea Watch 3

Zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer wird zusehend erschwert. Schiffe werden nicht in die Häfen gelassen, Beschlagnahmungen und Verfahren wegen Schlepperei drohen, und die libysche Küstenwache drängt immer mehr Boote zurück an die nordafrikanische Küste. Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber haben mit Hannes Reiter (Name von der Redaktion geändert) über seine Erfahrungen auf Sea-Watch-Missionen gesprochen.

Foto: © Tim Lüddemann – Sea Watch

«Eigentlich war ich ja öfter in der Werft als auf See», meint Hannes Reiter gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Er hat die Ausbildung zum Technischen Wachoffizier, also zum Maschinisten, abgeschlossen und sich vor zwei Jahren entschieden, bei Sea Watch mitzumachen. Zuvor habe er schon Kontakte zu No-Border-Aktivist_innen gehabt, habe in einer Notunterkunft für Migrant_innen ohne Papiere in Glasgow gearbeitet und in Wien geflüchteten Menschen Nachhilfe gegeben. Der erste ausschlaggebende Impuls sei jedoch eine Ausbildungsfahrt auf einem arabischen Containerschiff gewesen: In den Gesprächen mit den Besatzungsmitgliedern aus Syrien, Palästina, dem Irak, Ägypten, Jordanien und Pakistan habe er viel über ihre Lebensverhältnisse erfahren, u. a. auch darüber, wie sich die permanente Präsenz von US-amerikanischem und europäischem Militär im Alltag auswirke. «Auf der Webseite von Sea Watch habe ich schließlich gesehen, dass sie Leute suchen für die Werftarbeiten. Ich hab ihnen geschrieben, dass ich die Ausbildung habe und sie gefragt, ob ich mithelfen kann.»

Sea Watch ist eine gemeinnützige NGO


Sie hat sich der Rettung in Seenot geratener flüchtender Menschen verschrieben. Mit ihrem aktuellen Boot, der 55 Meter langen Sea-Watch 3, befindet sie sich auf Rettungsmissionen in der SAR-Zone (Search-and-Rescue-Zone), 24 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt. Neben den Schiffen betreibt Sea Watch gemeinsam mit der Schweizer humanitären Piloteninitiative ein Aufklärungsflugzeug. Mit Hilfe der Propellermaschine Moonbird können auf dem Meer treibende Boote schneller gesichtet werden. Die Finanzierung der Einsätze erfolgt ausnahmslos durch Spenden. Auf der Webseite kann man sich darüber informieren, welche Positionen am Schiff benötigt werden und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen. Neben den drei Brückenoffizier_innen und den drei technischen Offizier_innen fahren jedes Mal auch Ärzt_innen und Pfleger_innen mit. Eine Person leitet als Guest-Coordinator die Betreuung der aufgenommenen Menschen, der Gäste, wie sie auf den Sea-Watch-Schiffen genannt werden. Ein_e Head of Mission koordiniert den gesamten Einsatz und entscheidet etwa auch, ob das Schiff Auseinandersetzungen mit der libyschen Küstenwache riskiert. Zur Besatzung zählen außerdem ein Koch oder eine Köchin, RHIB-Fahrer_innen – RHIB sind die Festrumpfschlauchboote, die sich den Booten nähern –, ein_e Cultural Mediator, die oder der mit den Gästen auf Arabisch, Englisch oder Französisch sprechen kann, sowie ein_e Media-Coordinator, die oder der fotografiert und Berichte schreibt. Manchmal sind auch Journalist_innen mit an Bord. Hannes Reiter ist, nachdem er eine Zeitlang in der Werft geholfen hat, das Schiff in Stand zu halten, eher zufällig auf seine erste Mission gefahren: «Ich bin so nebenbei gefragt worden, ob ich denn nicht mit hinausfahren wolle. Und das habe ich dann gemacht.»

Für eine Mission trifft sich die neue Crew auf Malta


Erst lernt man sich ein paar Tage lang kennen, dann erfolgt das Handover: Die ehemalige Crew übergibt das Schiff und erklärt alles Notwendige. Hannes Reiter ist vergangenen April als dritter Maschinist an Bord gegangen. «Als Maschinist ist man für die ganze Technik zuständig. Angefangen von der Hauptmaschine, die die Schiffsschraube dreht, über die Generatoren, die das Schiff mit Strom versorgen, bis zum Kühlsystem, das uns die Nahrungsmittel frisch hält.» Bevor das Schiff ablegt, wird sichergestellt, dass u. a. genügend Frischwasser, Treibstoff und Schmieröl an Bord sind. Das Hospital am Schiff und Essensvorräte müssen auch aufgestockt werden. Weiters findet ein psychologisches Briefing statt. «Man versucht uns vorzubereiten auf das, was auf uns zukommen könnte, möglicherweise traumatisierende Ereignisse.» Ein Buddy-System soll zudem gewährleisten, dass jede_r an Bord eine bestimmte Bezugsperson hat, mit der über belastende Vorfälle gesprochen werden kann. Je nach Wetterlage dauert die Fahrt von Malta aus in die SAR-Zone ungefähr einen Tag. Sobald das Schiff die Zone erreicht hat, beginnt die Patrouille: «Die Boote fahren üblicherweise in der Nacht los, damit sie die Küstenwache nicht sieht. In der Früh – die Schicht mit den Ferngläsern auf der Brücke beginnt bei Sonnenaufgang – tauchen die ersten Boote auf. Oft erkennt man sie nur durch die Ferngläser, weil der Radar sie nicht erfassen kann.» Sobald ein Boot gesichtet wird, setzt eine präzise Handlungsabfolge ein: Die RHIBs fahren zum Boot, Schwimmwesten werden verteilt. Umgehend wird die MRCC, die Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom, kontaktiert. Per Funk werden die Koordinaten bekanntgegeben, und es wird abgeklärt, ob die Menschen von Sea Watch oder einem anderen Schiff (NGO, Frontex, Kriegsmarine, aber auch Libysche Küstenwache) an Bord genommen werden.

Mitgerissen


«Zusammenstöße zwischen libyscher Küstenwache und NGO-Schiffen häufen sich. Für die NGOs ist es inakzeptabel, die Leute der Küstenwache zu überlassen, da es gilt, diese Menschen – gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention – zu schützen. Das kann auch mal gefährlich werden, da die Küstenwache ja bewaffnet ist und es deren Job ist, diese Menschen wieder nach Libyen zu bringen.» Der Idealfall aber sei es, wenn keine Menschen in Gefahr sind und von der MRCC das Ok kommt, sie aufzunehmen. Dann schieben die RHIBs entweder das Boot zum Schiff oder sie fahren solange hin und her, bis alle an Bord sind. Dort erhalten die Gäste Trinkwasser, Rettungs- und Wolldecken, anschließend werden sie medizinisch erstversorgt. «Wenn alle an Bord sind, fällt der ganze Stress von der Überfahrt ab. Oft ist wirklich gute Stimmung, und du wirst selbst auch mitgerissen, obwohl du genau weißt, dass es für sie nicht leichter werden wird. Ich weiß ja, wie es ihnen dann gehen wird in Lampedusa und so. Auf meiner letzten Mission im April, da war es auch so, dass die Leute froh waren und hoffnungsvoll, und dann haben wir sie einem spanischen Kriegsschiff übergeben, der Guardia Civil. Aber wenigstens die paar Stunden bei uns am Schiff waren gut für sie, da haben sie sich wohlfühlen und erholen können.» Die auf der Sea Watch 3 aufgenommenen Gäste werden oft an andere Schiffe übergeben, an Kriegs- und Frontex-Schiffe, aber auch an andere NGO-Schiffe wie die Aquarius.

Zwangsarbeit und Folter


Hannes Reiter hat öfters Gelegenheit gehabt, mit den Gästen an Bord zu sprechen. Eine Geschichte ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: «Abdullah hat bei einem Schneider in Libyen gearbeitet und wurde dort wie ein Sklave gehalten, 14 Stunden Arbeit am Tag, in der Nacht wurde er eingesperrt. Obwohl Fluchtversuche oft daran scheitern, dass die Menschen, die unter diesen Verhältnissen versuchen, Geld für die Überfahrt zu verdienen, wieder aufgegriffen, geschlagen und misshandelt werden, ist es Abdullah gelungen zu entkommen.» Eine gängige Praxis in Libyen sei es mittlerweile auch, flüchtende Menschen zu foltern und die Foltervideos an die Familien in den Herkunftsländern zu schicken, um Geld zu erpressen. «Es ist beschämend. Zuerst trägt die EU dazu bei, Libyen zu destabilisieren, und dann übernimmt man keine Verantwortung für die Konsequenzen und handelt nur im eigenen egoistischen Interesse.» Seit vergangenem Jahr hat die EU vermehrt damit begonnen, die libysche Küstenwache aufzurüsten und zu trainieren. Sie bekommt Geld dafür, dass sie geflüchtete Menschen abfängt und wieder zurück nach Libyen bringt. Im Grunde verschafft diese Grenzpolitik Libyen billigste Arbeitskräfte, die, da es keine entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen gibt, uneingeschränkt ausgebeutet werden können. «Das geht uns alle an und wir sollten uns alle, jede und jeder für sich, überlegen, was wir dagegen tun können.»

www.sea-watch.org

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