Kolportage für kranken Angehörigen: Mihaela und Elena Boti
Hin und wieder haben Augustin-VerkäuferInnen schlechte Tage. Der Zufall sorgt manchmal dafür, dass eine Mischung von Trübsinn, Hypochondrie, Weltschmerz, Zanksucht und Gereiztheit sich im Vertriebsbüro ablagert, wenn sich die schlechten Launen der Einzelnen multiplizieren. Wenn Mihaela und Elena Boti in diese Stimmung platzen, bringen sie mit ihrem Lächeln und ihrer Freundlichkeit einen Moment Sonnenschein in den Verdruss. Tochter Mihaela und Mutter Elena geraten immer gemeinsam in die Kolporteursstation, ein Doppelpack Sanftheit und Herzlichkeit. Sie kaufen jeweils dieselbe Menge Zeitungen ein. Mihaela hat im letzten Jahr ihren deutschen Wortschatz zwar rasant bereichert, aber die Kommunikation beschränkt sich, wenn der junge Rumänisch-Dolmetscher des Augustin nicht da ist, auf das Allernotwendigste. Dann machen sich Mutter und Tochter auf den Weg an den Stadtrand. Die eine zu einem Billa, die andere zu einem Hofer.
Die Einnahmen aus der Kolportage brauchen sie vor allem für ihren Mihai: Elenas Mann, Mihaelas Vater. Mihai hat Diabetes und andere Krankheiten. Derzeit liegt er im Krankenhaus. Wenn es ihm besser geht, verkauft auch er die Straßenzeitung vor einem Einkaufszentrum. Er muss dabei aber auf einem mitgebrachten Sessel sitzen, so schwach ist er. Schon zuhause in Timioara, Rumänien, war Mihai Boti nicht krankenversichert. Er war arbeitslos, weil er krank war und weil er Rom ist.
Weil er einkommenslos war, konnte er sich die rumänische Krankenversicherung nicht leisten, erzählt Elena. Ohne Krankenversicherung konnte er die Medikamente und Arztbesuche nicht bezahlen. Als Armutstourist ist er auch in Wien nicht versicherungswürdig. Doch in Wien gibt es den Augustin. Erst durch ihn ist es möglich, monatlich 50 Euro für die notwendige Medizin auszugeben. Die Kunde, dass man in Wien als Augustinverkäufer überleben könne, hatten die Botis noch in Timioara vernommen. Es gab da so ein Gerücht, sagt Elena.
Mihai und sein Sohn Mihai jun. gingen vor fünf Jahren dem Gerücht nach. Die beiden Männer der Familie testeten die Straßenzeitungskolportage. Zwei Jahre später holten sie den weiblichen Teil nach. In Rumänien hätte dIe Romafamilie auch ohne die Krankheit des Vaters keine Perspektive gehabt. Und seit 2005 hat sie auch keine Wohnung mehr in Timioara. Der private Hausbesitzer, den die Kommunisten expropriiert hatten, hatte seine wieder erlangten Eigentumsrechte ausgenützt, um die Sozialmieter zu kündigen.
Vom kleinen Wien ins große…
Timioara ist mit rund 320.000 Einwohnern eine der größten Städte Rumäniens und wirtschaftliches sowie kulturelles Zentrum des Banats im Westen des Landes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es noch eine deutsche und ungarische Mehrheit und neben den Rumänen einen sehr hohen serbischen Bevölkerungsanteil. Bis ungefähr 1944 bildeten die Deutschen die größte Bevölkerungsgruppe. Heute wird Timioara überwiegend von Rumänen (85,52%) bewohnt. Es leben aber immer noch viele Ungarn (7,65%), Deutsche (2,25%), Serben (1,98%) und Zigeuner (0,96%) in der Stadt.
Das ist die offizielle Statistik. Statistiken lügen überall, wenn es um den Zigeuneranteil geht. Wie fast alle Zigeuner damals konnte auch die Familie Boti ihre Tochter Mihaela und Mihai, den Sohn, nicht zur Schule schicken. Unmöglich, die Schulbücher zu bezahlen. Die Roma nennen sich in Timioara in der Regel selber so: Zigeuner. Wir fühlen uns aber mehr als Rumänen, sagen die beiden Romni im Augustin-Gespräch.
Alle drei Monate muss die Familie nach Rumänien reisen, um die Aufenthaltsberechtigung für Österreich zu erneuern. Man könnte sagen, sie pendelt zwischen Wien und Klein-Wien. Denn Timioara, auch als Temeschwar bekannt, wurde „Klein-Wien'“ bezeichnet, weil die Stadt lange Zeit zu Österreich gehörte und die gesamte Innenstadt weiterhin von Bauten aus der Kaiserzeit geprägt ist, die an das alte Wien erinnern (und vielleicht auch, weil Tarzan-Darsteller und Leistungsschwimmer Johnny Weissmuller 1904 in Freidorf, heute ein Stadtteil von Timioara, geboren wurde).
Elena und Mihaela käme dieser Wien-Vergleich jedoch nicht über die Lippen. Im richtigen Wien, im Wien des Augustin, sei alles viel schöner als in ihrer Heimatstadt, sagen sie. Soviel wir bohren, wir kriegen nicht heraus, was sie hier besonders schätzen. Alles hier gefällt uns, wiederholen die beiden nur, eine Doppelpackung Liebenswürdigkeit. Selbst die Menschen seien in Wien freundlicher, betonen die Zigeunerinnen mit einem Lächeln, das im so einnehmenden Wien nicht eben zu den Standardgesten zählt. DIE Wiener? Wen kennen sie schon außer den netten Stammkunden bei Billa und Hofer, die in Elena, der gelassenen Schamanin mit dem Tschik im Mundwinkel, die oberflächliche Bestätigung ihres Zigeunerinnenbildes vorfinden? Manche kaufen ihr und ihrer Tochter auch zwei oder drei Stück pro Augustin-Ausgabe ab.
Nichts ist romantisch an der Art, wie die Botis hier leben. Armut isoliert. Teilnahme an Geselligkeiten kann sich Familie Boti nicht leisten. Selbst zu rumänischen MigrantInnen hat sie wenig Kontakt. Andererseits, mit den BettlerInnen, meistens ja ebenfalls Roma, haben Elena und Mihaela mehr Kontakt als ihnen lieb ist, behaupten sie: Wenn die Bettler vorm Supermarkt stehen, ist es mit der Zeitungskolportage aus. Während sie den BettlerInnen freiwillig weichen, lässt ihnen die Supermarkt-Filialleitung oft keine Wahl: Manchmal sagen die Chefs, wir müssen verschwinden. Wiens Wärme kennt viele Temperaturen…