In U-Haft gilt die Schuldvermutung?tun & lassen

Fünfhundert Seiten über dreihundert «Höllentage»

In U-Haft gilt die Schuldvermutung … Das widerspricht zwar dem Gesetz, aber es muss wohl so sein, denn anders ist nicht zu erklären, was Egon E. Werther seit dem 14. August 2012, 07:15 Uhr durchmacht. «300 Tage in der Hölle» ist auf dem Cover seines Gefängnistagebuchs zu lesen, den weiteren Verlauf seiner Untersuchungshaft betrachtet er bereits als Freiheit, denn seit 29. Mai 2013 verläuft seine U-Haft auf elektronisch gefesseltem «freiem» Fuß.

Foto: Robert Newald

Wann diese Haft zu Ende sein wird, steht in den Sternen, denn schon vor dem 14. August 2013 haben (ohne sein Wissen) Ermittlungen gegen ihn begonnen, und sie dauern an, weil bis jetzt kein einziger Beleg seiner Schuld aufgetaucht ist. «Und das ist auch nicht möglich, denn ich habe absolut nichts Unrechtes getan.» Weil er die Anklage nicht kennt, kann er nur vermuten, was ihm vorgeworfen wird: als Arbeitgeber seine Arbeitnehmer_innen um Lohnanteile betrogen zu haben.

Er wirkt absolut ruhig und sachlich, als er mir gegenübersitzt, in Anzug und Krawatte, immer darauf bedacht, den bestmöglichen Eindruck von sich zu erwecken. Was er im Vieraugen-Gespräch erzählt und was er auf 500 A5-Druckseiten glaubhaft zu Buch gebracht hat, ist andererseits absolut unglaublich. Aber ich frage mich, warum er lügen sollte. Er kann sich in seiner Situation durch das Aufdecken von Missständen – und als solches will er seine Dokumentation verstanden wissen – ja nur schaden. Sein Buch versteht er auch als einen Dienst an der Gesellschaft, denn was ihm widerfahren ist und weiterhin widerfährt, kann, davon ist er überzeugt, jeder und jedem jederzeit hier und jetzt in Österreich geschehen.

Sein Bericht dokumentiert, wie sich die österreichische Strafjustiz zum Instrument gehässiger Betreiber_innen machen lässt und dadurch Schuldige nur bestraft, sich an zu Unrecht Verdächtigten aber mit der gnadenlosen Vernichtung ihrer Existenz rächt. Die Untersuchungshaft ist jene Zeitspanne, in der Anklagepunkte gefunden und formuliert werden müssen, die sich auf Schuldbeweise stützen. Die Jagd nach solchen Beweisen wird – so hat es den Anschein – im Fall Egon E. Werther mit einer gewissen Jagdlust betrieben. Und mit unvorstellbarer Zerstörungswut.

Belastung von Liebes- und Lebensbeziehungen

Anscheinend soll die Lebensgefährtin zu Anschuldigungen veranlasst werden. Sie verbringt zwei Wochen im Frauentrakt des Gefängnisses. Man hat ihr die Lüge von einer anderen Frau erzählt, mit der Werther hinter ihrem Rücken eine Beziehung haben soll. So viel erfährt er noch von ihr. Die Ungewissheit, was sonst mit ihr geschehen ist, dass sie sich trotz seiner verzweifelten Bemühungen, irgendetwas über sie zu erfahren, völlig aus seinem Leben fernhält, ist das quälendste Element in seiner Gefangenschaft.

Zermürbung durch Hinausschieben der Enthaftung

Im Bewusstsein, nichts verbrochen zu haben, rechnet Egon E. Werther nach jeder Haftprüfung mit seiner Freilassung. Aber jede endet mit einer Verlängerung der U-Haft. Erst um zwei Wochen, dann um zwei Monate, dann wird ihm mitgeteilt, dass er gerade eine Ersatzstrafe für eine Geldstrafe abgesessen hat, von der er nicht einmal etwas wusste. Seine Beweisanträge werden nicht beantwortet. Statt Zahlungsnachweise in der beschlagnahmten Buchhaltung einer Beweiswürdigung zuzuführen, lässt man im Ausland gegen ihn ermitteln. Das erweist sich als zunehmend komplizierter und verlängert, weil ergebnislos, die U-Haft. Es bestehe Verdunkelungs- und Fluchtgefahr. Das sind Haftgründe, die so gut wie immer angeführt werden können.

Entzug von Grundrechten

Schon bei der Festnahme wird das Recht auf Anruf bei einem Anwalt vereitelt. «Ja natürlich, aber jetzt geht’s grad nicht.» Wenn Geldbeträge von außen eingeklagt werden, weil er seine Verpflichtungen vom Gefängnis aus nicht wahrnehmen kann, erfährt er gelegentlich von deren Existenz erst nach dem Urteil auf Ersatzhaft. Schließlich erlebt Werther seine Untersuchungshaft als Beugehaft, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen, das er sich erst auszudenken hätte, da er ja nichts Unrechtes getan habe.

Hygienedeprivation

Bei der Festnahme darf die Lebensgefährtin keine Hygieneartikel mitnehmen. Das zu wissen und ihr nicht helfen zu können ist Teil des Unreinlichkeitsterrors und zugleich des Terrors, der durch das Quälen engster Angehöriger ausgeübt wird. Die Verwalter von Seife, Monatsbinden, Duschmöglichkeiten etc. verfügen über eine nirgends festgeschriebene Macht, die nur zu oft zur Zerstörung der Selbstachtung eingesetzt wird. Als Herr Werther seine Zelle zugewiesen bekommt, erträgt er den Geruch nach Kotze, Urin, Schweiß, Zigarettenrauch etc. und die Enge von vier Quadratmeter pro Insasse beinahe nicht. Wenigstens das «Krokodil» ist ihm erspart geblieben, ein Gefangenentransportfahrzeug für lange «Übersiedlungen», während deren kein Toilettenbesuch gestattet ist und das anscheinend nie von den daraus resultierenden Fäkalien- und Urinspuren gereinigt wird.

Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist vorgesehen, aber der Zugang wird durch zahlreiche Hindernisse erschwert. Bis die Anmeldung zur Kenntnis genommen und weitergereicht wird, bedarf es oft vieler Versuche. Für Untersuchungen ist zumeist gar keine Zeit. Die Konsultation beschränkt sich auf das Nennen von Beschwerden und die Verordnung von Medikamenten. Psychische und/oder neurologische Probleme verschweigt man aus Angst vor Zwangs-Depotspritzen bis zum Ohnmachtsanfall. Als Egon E. Werther solche Anfälle ereilen, wird er mit Psychopharaka versorgt, die er oral einnehmen darf. Es sind schließlich 12 verschiedene Medikamente, die ihn ruhigstellen, aber seine Gedanken an Selbstmord nicht leiser werden lassen. Manchmal träumt er sogar davon, dass er sich die Pulsadern aufschneidet. Schließlich überwiegt die Furcht vor dem Verlust seiner Persönlichkeit die Angst vor den Beschwerden so sehr, dass er die Medikamente ohne ärztliche Kontrolle absetzt. Eine verbesserte Haftsituation ermöglicht ihm körperliches Training nach eigenem Programm. So steht er die Hölle des Medikamentenentzugs durch.

Vernichtung der Existenzgrundlage

11 Monate ist der soziale Dienstleistungsbetrieb erst alt, den Egon E. Werther und seine Partnerin gegründet und zum Florieren gebracht haben. Durch die unangekündigte Verhaftung beider Firmenleiter_innen entfallen die Dienstleistungen. «Die Firmenleitung sitzt», wird von den Kund_innen wahrgenommen. An einen Wiederaufbau nach Haftentlassung ist nicht mehr zu denken. Die finanziellen Folgeschäden belasten die Zukunft – vielleicht für immer. Noch kann sich Werther immerhin einen Anwalt mit moderater Honorarforderung leisten, und er hat vor allem einige wenige Freunde, die sich um Schadensbegrenzung bemühen. Sein Privateigentum, auf das von Menschen, mit denen er in Streit lebt, Anspruch erhoben wird, kann er nur sehr schwer schützen. Er hat etliche Insassen erlebt, die aus erarbeitetem Wohlstand aus der U-Haft direkt ins Männerheim übersiedeln mussten.

Konfrontation mit Sex und Gewalt

Im Gefängnis gilt das Recht des Stärkeren. Die Belagsdichte – die StVA Wr. Neustadt ist zu 30 Prozent überbelegt – lässt Gewalt eskalieren. Es kommt zu Schlägereien und Vergewaltigungen, die selten angezeigt werden. Die sexuelle Diskriminierung ist institutionell. Es gibt auch institutionell vorgesehene sexuelle Nötigungen, auch wenn man sie nicht so nennen darf. Werden in einem Trakt verbotene Substanzen oder gar ein Handy vermutet, muss sich jeder Insasse nackt untersuchen lassen. Die Untersucher dringen vorschriftsgemäß (!) mit behandschuhten Fingern in alle Körperöffnungen. Die Jagd nach einer SIM-Card oder einem Gramm Stoff lässt auf beiden Seiten keine Schambarrieren zu.

Die U-Haft ist härter als die Strafhaft

Das «Tagebuch eines Untersuchungshäftlings/300 Tage in der Hölle – unschuldig – als Opfer einer erstarrten Justiz» lässt keinen Zweifel daran. Egon E. Werther beginnt in dieser Hölle sehr rasch, die rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen zu beneiden. Am Ende beneidet er sogar jene ausländischen Straftäter_innen, denen die Reststrafe in Österreich erlassen wird, wenn sie einer Abschiebung in ihr Ursprungsland zustimmen.

Den Neid auf die Strafgefangenen begründet er in einer Liste von Vorteilen gegenüber dem Untersuchungshäftling:

«1) Jeder Strafgefangene hat ein Recht auf Ausgang. Der Untersuchungshäftling hat das nicht.

2) Jeder Strafgefangene hat das Recht auf Freigang. Als U-Häftling gibt es keinen Freigang.

3) Strafgefangenen wird die Haftstrafe nach zwei Dritteln der abgesessenen Strafe erlassen, U-Häftlinge wissen nie, wann sie enthaftet werden. Man hat kein Ziel, und das zermürbt.

4) Der Strafgefangene bekommt bei seiner Entlassung Geld ausbezahlt, ein sogenanntes Startgeld. Der U-Häftling ist pleite, wenn er rauskommt. Und keiner fragt, wovon er leben soll, da sind schon einige Existenzen zugrunde gegangen.

… er [der Strafgefangene] hat sein Handy, … ein Recht auf Arbeit …»

Wie im Nachhinein zu erfahren ist, existiert seit 25. Mai 2013 eine Anklageschrift, aber bis jetzt kein Termin für die Hauptverhandlung. Bis zu dieser wird aber der EÜH (elektronisch überwachte Hausarrest), sprich: die Fußfessel, aufrecht bleiben.

Info

«300 Tage in der Hölle» von Egon E. Werther ist im Buchhandel erhältlich. Ca. 500 Seiten, 26 Euro