Ingrid Englbrecht gibt nicht aufvorstadt

Als 54-Jährige wurde sie Österreichs bis dato einzige Europameisterin im Karambol. 20 Jahre später hat sie alle Ziele erreicht bis auf eines: Die besten Männer im Billard zu besiegen.

TEXT & FOTOS: NINA STRASSER

Eines will Ingrid Englbrecht von Beginn an klarstellen: Eine Bauernfängerin sei sie keine. Was der Duden mit «plumpe Betrügerin» definiert, erklärt die 74-jährige Wienerin so: «Wenn jemand sehr gut Billard kann und mit einem Ahnungslosen um sehr viel Geld spielt.» Nur einmal, in den 90er Jahren, hätte sie in Verdacht kommen können, eine solche zu sein, wobei es weder um Geld gegangen sei noch sie mutwillig jemanden getäuscht hätte. Damals habe sie im Café Weidinger drei Männer am Billardtisch beobachtet, die eine Partie Viererzug hätten spielen wollen. Bei dieser Spielvariante tritt man jeweils zu zweit gegeneinander an. Mangels eines vierten Manns hätten sie sich suchend umgesehen und einer habe Englbrecht aus Spaß gefragt, ob sie mitspielen wolle. Was sie tat. «Mein Spielpartner hat ganz schön g’schaut», erzählt sie heute. «Die anderen zwei waren recht pikiert, als sie verloren haben. Noch dazu gegen eine Frau.»
Die Billard-Europameisterin der Jahre 2002 und 2003 sitzt im Gastgarten des Café Weingartner (Näheres über dieses Café auf Seite 9) und begießt das 20-jährige Jubiläum des ersten Titelgewinns mit Mineralwasser. Früher hat die beste Karambol-Sportlerin Österreichs manchmal im Café Weingartner gespielt, später hat sie, schräg gegenüber in der Billardschule, Anfänger:innen unterrichtet. Seit sie im zweiten Bezirk ums Eck von ihrem Club BSK Augarten wohnt, wo sie die Sportleitung innehat und die Webseite betreut, verschlägt es sie kaum noch hierher. «Ich denke aber schon», sagt sie, «dass man mich hier noch kennt.» Für das Interview mit dem Augustin ist sie mit dem Fahrrad angereist. Darum habe sie den unpraktischen Queue zu Hause gelassen. Nun, im Weingartner könne man sich auch einen ausborgen. Ob ein Tisch frei wäre, wird der junge Ober vorsichtshalber gefragt, der nach einem prüfenden Blick auf Englbrecht den kleinen Tisch bewirbt, weil der leichter zu spielen ist als ein großer Turniertisch. Englbrecht entscheidet sich für zweiteren.

Mentaler Vorteil.

Als Kind hat die Wienerin auf der selbstgebauten Platte des Onkels ihre ersten Stöße getan, als Teenager klapperte sie Wiens Kaffeehäuser danach ab, ob sie auf einem Tisch Billard spielen durfte. In ihrem Stammcafé Max, im 17. Bezirk, war das nicht der Fall. «Geh lieber kochen», habe man zu ihr gesagt. Aber im Café Epp ganz in der Nähe, habe der Ober ein Einsehen mit ihr gehabt, genauso wie im Weingartner. «Aber ich bekam die schlechten Kugeln und musste mich hinten anstellen.» Mit 20 Jahren erfuhr sie von der Existenz eines Billardvereins am Margaretengürtel, wo sie alsbald vorstellig wurde. Die Männer brachten ihr nicht nur die Grundtechniken bei, sondern schlossen auch Wetten ab, wann sie das Training aufgeben würde. «Wahrscheinlich habe ich immer weitergemacht, weil man es mir so oft verboten hat», analysiert sie heute. Gut, sagt sie, sei sie damals ja nicht gewesen. Gefürchtet aber sehr wohl. Eine Niederlage gegen die Frau galt unter Männern als besondere Schmach. «Das hat mir einen mentalen Vorteil verschafft und ich habe auch bessere besiegt.» Ihr Ehemann sei nicht erfreut gewesen über ihre häufige, trainingsbedingte Abwesenheit, dann kam 1973 ihr Sohn zur Welt. «Kind, Mann, Kochen und Beruf. Da war Billard abgehakt,» fasst Englbrecht die Ereignisse zusammen.
Auf den Gastgarten des Café Weingartner fallen Regentropfen, darum zieht es Englbrecht ins Innere des Lokals. Gleich nach der Eingangstür kommt es zu ­einem Aufeinandertreffen mit Heinrich Weingartner sen., man grüßt sich via Körpersprache. Mit dem Sprechen tut sich der ehemalige Präsident des Österreichischen Billardverbands schwer, seit er vor vier Jahren einen Überfall nur knapp überlebte. Weingartner war es, der Englbrecht nach einer langjährigen Billardpause 1982 mit einem Anruf zurück an den Tisch geholt hat. Die Regisseurin Kitty Kino drehte damals den Kinofilm Karambolage und benötigte ein Double für Hauptdarstellerin Marie Colbin, die eine Billardspielerin mimte. «Wir haben nur dich», soll Weingartner zur zögernden Englbrecht ins Telefon gesagt haben. Schon war sie überredet. Laut Filmbeschreibung geht es in dem Streifen um «die Geschichte eines Bewusstwerdungsprozesses. Um über Enttäuschungen und Karambolagen in ihrem Privatleben hinwegzukommen, wird das Spiel zu ihrer Leidenschaft». Ähnlich könnte man den Lebensverlauf von Englbrecht deuten. Durch den Filmdreh war die Leidenschaft am Billardsport wieder erwacht und mit der Ankündigung einer ersten Europameisterschaft für Frauen der Ehrgeiz. Herrn Englbrechts Missmut und Spott habe sie ertragen, sagt sie, um fortan wieder regelmäßig zu trainieren. Die Zeit zu finden neben dem gemeinsamen Beruf des Ehepaares, Pferdetrainer:innen auf der Trabrennbahn Krieau, sei ein organisatorisches Meisterstück von ihr gewesen.

Hochfeinmotorisches Spiel.

Englbrecht inspi­ziert im Weingartner den Billardtisch. «Sauber» stellt sie fest. Dann steckt sie drei Kugeln in ein Kugelreinigungsgerät und erwählt einen der an der Wand aufgereihten Queues («Sind alle in Ordnung!»). Die Regeln für die «Freie Partie» sind schnell erklärt: Drei Kugeln liegen auf dem lochfreien Tisch. Mit einem Stoß soll nun der Spielball die beiden anderen Bälle berühren. Gelingt dies nicht, ist der andere – in seltenen Fällen die andere – an der Reihe. Die sogenannte Karambolage zählt einen Punkt. Ziel ist, so lange wie möglich am Ball zu bleiben und die vorher festgesetzte Punkteanzahl zu erreichen. «Es handelt sich um ein hochfeinmotorisches Spiel», sagt Englbrecht. Körperliche Fitness sei für die Konzentration mitentscheidend. Mit Radfahren, Schwimmen, Wandern, nahezu täglicher Gymnastik und ein wenig Krafttraining hält sie sich fit. «Das wichtigste aber», sagt sie jetzt, «ist ein unerschütterliches Selbstvertrauen.» Das allerdings habe sie mit Platz vier bei ihrer ersten EM-Teilnahme 1985 in Frankreich vorübergehend verloren.
Die 74-jährige Wienerin führt nun den Massé vor, einen Stoß, bei dem der Queue fast senkrecht von oben nach unten geführt wird. Gelingt er, beschreibt der Ball eine Kurve nach vorne. Die Männer, die sich bislang am Nebentisch duelliert haben, sehen ihr aus der Ferne zu und lauschen ihren Ausführungen. «Alles, was du denkst, wirkt sich auf das Spiel aus», erklärt Englbrecht. «Hat man Angst, dass der Ball daneben geht, ist es auch schon passiert.» Deshalb sei Billard in erster Linie ein Spiel gegen sich selbst. «Bei der EM habe ich erstmals gegen Frauen gespielt und bin so unter Druck gestanden, dass ich gegen Schwächere verloren habe. Das hat mir einen Knacks gegeben.» Die damals 37-jährige Englbrecht wurde Vierte. Den Sieg holte die um 20 Jahre jüngere Französin Magali Declunder. Auch die Jahre darauf blieb Englbrecht bei den Titelkämpfen unter den Erwartungen. «Aber ich habe nie aufgegeben!» Erst 1992 landete sie mit Platz drei erstmals in den EM-Medaillenrängen, sechs Jahre später wurde sie bei der ersten EM in Wien im Billardclub von Heinrich Weingartner sen. wieder Dritte – allerdings unter neuen Vorzeichen.

Vorruhestand.

Die Ehe war gescheitert, weswegen sie nun nicht mehr in der Krieau, sondern bei der Post arbeitete. Diese hatte die damals 50-Jährige kurz vor der EM in den Vorruhestand geschickt. Sie trainierte nun drei Stunden täglich und beschäftigte sich mit autogenem Training. Erst las sie Bücher, dann nahm sie an Gruppen­sitzungen des Psychotherapeuten Karl Kriechbaum teil. Als 2002 die als unschlagbar geltende Französin Declunder eine Babypause einlegte, habe sie sich mit den Worten «ich will jetzt Europameisterin werden» Einzeltherapiestunden genommen. Englbrecht habe gelernt, statt an das Ergebnis nur an den nächsten Stoß zu denken, nicht mit Fehlern zu hadern, sondern sie zu analysieren. Sie legte sich Motivationssätze zurecht. Vor den Titelkämpfen, die wieder in Wien stattfanden, notierte sie sich auf ihrem Uhrband «Ich liebe es» und malte daneben ein Herz. Dreizehn Jahre nach ihrer ersten EM holte Englbrecht erstmals Gold: «So lange hatte ich darauf gewartet und nun war es Wirklichkeit geworden», schreibt sie auf ihrer Webseite http://englbrecht.at. Nachdem sie ein Jahr später den Erfolg wiederholte, beendete sie die internationale Karriere.
«Nur aus der Masse», sagt Englbrecht, «kommt die Klasse.» Potenzielle Nachfolgerinnen, bedauert sie, hätten sich hierzulande im Karambol bislang kaum gefunden. Bei der EM unlängst in Melk gewann die Französin Magali Declunder ihren 13. Titel, die beste Österreicherin, Heike Hingerl wurde sechste. Durchgesetzt hat sich in Österreich die Disziplin Pool (siehe Kasten), bei der die Bälle in Löcher gestoßen werden. Ein Star der Szene ist die ­Kärntnerin Jasmin ­Ouschan (ihre von Nina Strasser verfasste Biografie ist vor Kurzem unter dem Titel Alles auf Sieg! im Seifert Verlag erschienen), die 2010 den WM-Titel gewann, zwei Jahre zuvor Bronze bei der Herren-WM holte. Sie sei ihr Vorbild, sagt Englbrecht, wenngleich sich die beiden nie persönlich kennengelernt haben. Noch ist ein völliges Karriereende nicht beschlossen. Noch 2020 wurde die heute 74-Jährige zum 30. Mal in ihrer Karriere Staatsmeisterin. Vieles, sinniert sie, habe sie erreicht, aber nicht alles, was sie sich vorgenommen hatte: «Ich wollte die besten Männer schlagen. Das ist nicht gelungen.» Womöglich wären die zehn Jahre Pause dafür verantwortlich gewesen, dass sie nicht ihr ganzes ­Potenzial hätte ausschöpfen können.

Neuer Vorteil.

Das Interview ist zu Ende, ebenso der Regenguss. Ingrid Englbrecht bestellt ein zweites Mineralwasser und bleibt im Café Weingartner neben den Billardtischen sitzen. Es scheint, als würde sie darauf warten, von einem der anwesenden Männer zu einer Partie aufgefordert zu werden. «Ich habe inzwischen einen neuen psychologischen Vorteil», sagt sie, «gegen so eine Alte wie mich will niemand verlieren.»

 

Die Billard-Disziplinen
Es existieren rund 35 verschiedene Arten, Billard zu spielen. Hier ein Überblick der drei bekanntesten.

Snooker
Verbreitet ist diese Disziplin vor allem in Großbritannien, Indien und China. Durch die Übertragungen auf dem Fernsehsender Euro­sport hat Snooker auch europaweit große Bekanntheit erlangt. Der Tisch ist der größte im Billard, die Bälle sind hingegen kleiner als in den anderen Disziplinen. Ein Merkmal des sogenannten Gentleman-Sport ist der große Stellenwert von Anstand und Benehmen, was sich auch auf die Kleiderordnung niederschlägt. Da es für Frauen im Snooker spärliche Preisgelder gibt, wechseln die meisten im Laufe ihrer Karrieren zu Pool.
Regeln: Es gilt, abwechselnd mit dem weißen Spielball einen von 15 roten Bällen und einen der sechs verschiedenfarbigen Bälle zu versenken. Jeder der verschiedenfarbigen Bälle zählt eine andere Punktzahl. Ist ­einer versenkt, wird er wieder auf den Tisch zurückgelegt. Erst wenn alle roten Bälle versenkt wurden, folgen die farbigen in der Reihenfolge Gelb, Grün, Braun, Blau, Pink und Schwarz. Die Spielerin mit den meisten Punkten gewinnt.

Karambol oder Karambolage
Diese Form des Billards wird auf einem Tisch ohne Löcher gespielt. Die Bälle sind größer als bei Pool und Snooker, die Tische kleiner, wobei es unterschiedliche Größen gibt. Karambol ist stark in Südkorea, Belgien, Holland und Frankreich verbreitet.
Regeln: Der Spielball einer Spielerin ist weiß, jener der anderen gelb. Der dritte Ball am Tisch ist rot. Bei einem Stoß muss der Spielball beide anderen Bälle berühren. Diese ­sogenannte Karambolage wird mit einem Punkt belohnt und die Spielerin setzt ihre Serie fort. Wenn keine Karambolage gelingt, wechselt die Spielerin, was als «Aufnahme» bezeichnet wird. Wie lange das Spiel dauert, wird vorher durch eine zu erreichende Punktzahl oder durch eine Anzahl von Aufnahmen festgelegt. Die bekanntesten Disziplinen heißen Freie Partie, Cadre, Einband, Dreiband, 4-Ball-Partie und unterscheiden sich durch verschiedene Zusatzregeln.

Pool
Wird fast flächendeckend auf der ganzen Welt gespielt. Tisch und Bälle haben eine mittlere Größe. Wettkämpfe werden in vier unterschiedlichen Disziplinen ausgetragen: 8-Ball, 9-Ball, 10-Ball, 14/1.
Regeln: Mit dem weißen Spielball werden die farbigen Objektbälle nach bestimmten Vorgaben eingelocht. Der Spielball wird dabei als einzige Kugel mithilfe des Queues gespielt. Die Spieler:innen haben abwechselnd je eine Aufnahme. Die Aufnahme ist beendet, wenn in einem Stoß keine Kugel regelgerecht eingelocht werden konnte.