Ein Besuch in der Ausstellung „Wiener in China“ mit Herrn K., der in Shanghai geboren wurde und bei seiner Rückkehr nach Wien mit einem Pferdestall vorliebnehmen musste.
Text: Kerstin Kellermann
In der Eingangshalle des Jüdischen Museums Wien treffen wir auf die Vermittlerin Hannah Landsmann, die gleich durch die Ausstellung „Wiener in China“ führen wird. Sie schlägt die Hände vor das Gesicht, als sie das Plastiksackerl sieht, in dem Herr K. Briefe aus und nach Shanghai mitgebracht hat – Dokumente seiner Familie. Er selbst ist 1942 in Shanghai geboren und hat allein Kindererinnerungen an diesen Ort. Es hat sich in seinem Leben bisher keine Gelegenheit geboten, Shanghai wieder zu besuchen. Vor dem chinesischen Fahrrad am Eingang der Ausstellung bleibt K. lange stehen: „Es gab Rikschas als Transportmittel für Menschen. Bei Hochwasser in den Straßen, welches öfter vorkam, sind diese Kulis bis zu den Knien im Wasser gestanden, gerade das man nicht im Wasser gesessen hat. Die Fahrräder dienten zum Gütertransport.“ Eigentlich wollte er den Besuch auf coronafreie Zeiten verschieben. Nun ist er doch im Museum. Seine Tante eröffnete in Shanghai eine Konditorei. Die Großeltern Gerstl waren mit vier Kindern vor den Nazis geflüchtet. „Das ist der Bund!“, ruft Herr K. und läuft zu dem langgestreckten Foto, das die Promenade am Ufer des Flusses Huangpu Jiang zeigt. Nach langem stillen Schauen: „Die Japaner planten schon Gaskammern zu bauen. Wenn die japanische Besetzung Shanghais länger gedauert hätte, wären wir dort umgebracht worden.“
Seil um den Bauch
35.000 Visas hatte es für Jüdinnen und Juden gegeben, um nach Shanghai zu flüchten. MOS für mosaisch stand in den Unterlagen. Schon 1941 fand dann die Machtübernahme durch Japan statt. „Der war das, ich erkenne seine Visage!“, ruft Herr K. plötzlich und schüttelt sich unbewusst. „Ich muss gar nicht hinschauen.“ Herr K. erkennt den Hauptverbrecher Kanoh Ghoya gleich, der sich „King of the Jews“ nannte! „Als das Ghetto Hongkew geschaffen wurde, haben alle Juden innerhalb dieses abgegrenzten Viertels wohnen müssen. Die Wohnbedingungen waren sehr schlecht. Ratten und so. Man durfte nicht hinaus“, resümiert er. „Als Japan dann kapituliert hat, waren die Japaner plötzlich wie weg, vom Erdboden verschluckt. Den Verbrecher hat man erwischt und niedergerungen. Der ihn festhielt, hätte ihm den Schädel einschlagen können, aber er hat es nicht können“, sagt er mit einem leicht resignierten und zugleich begeisterten Unterton, der viel impliziert. Wie sollen sich gute Menschen rächen oder strafen, wenn sie gewisse Mittel verachten und nicht übernehmen wollen?
„Als wir im Kindergarten waren, bombardierten die Amerikaner Shanghai. Es gab keine Luftschutzkeller wegen dem hohen Grundwasser direkt am Meer. Wir wurden in einer Bombenpause in ein besser gesichertes Gebäude evakuiert. Jedes Kind in einer Reihe mit einem Seil um den Bauch.“ Bis sein Vater ihn abholen kommen konnten, dauerte es. „Ich bin dann mit dem Vater auf dem Fahrrad durch die Straßen gefahren. In Shanghai hat alles auf der Straße gelebt. Die Menschen sind an den Wänden gepickt. Das war sehr schrecklich nach dem Bombenangriff.“
Strickleiter auf das Schiff
Er hat klarerweise kindliche Erinnerungen und Erinnerungen an Kinder. „Die Mutter ist mit mir während eines Bombenangriffs unter eine erhöhte Kinderbadewanne mit Metallfüßen gekrochen, als Schutz“, sagt er. „Es war alles so schmutzig in Shanghai. Babys sind tot im Rinnsal gelegen – Gott behüte. Mädchen wurden weggelegt, da die Altersversorgung nur durch Söhne garantiert war. Diese Mädchen waren verloren.“ Wieder schüttelt er sich.
Für Amerika hat man sich registrieren lassen müssen, es gab Kontingente. Der Vater wanderte aus, Herr K. hatte schon ein fertiges Kinderzimmer bei Verwandten in Chicago. Doch seine Eltern trennten sich. „Nach 1949 hat man aus Shanghai wegmüssen“, sagt er. „Die Großeltern besaßen einen Hausanteil in der Breiten Gasse 9, das spätere Möbelhaus Dorka – vor dem Krieg unser Möbelhaus Gerstl im Möbelviertel („Grüß Gott, ich bin Ihr Ariseur, geben Sie mir den Schlüssel – so war das“, merkt er später an). Wir hatten hier Wurzeln. Deswegen wollten wir zurück. 150.000 Juden schalteten in Shanghai eine Anzeige in die Zeitung: We cannot stay here. Help us to get out of Shanghai“, erinnert er sich. „Es gab eine starke Inflation. Die Schiffspassage war am nächsten Tag plötzlich viel teurer. Die Mutter musste mit mir auf dem Arm über eine wacklige Strickleiter über die Reling auf das Schiffs-Deck klettern.“ Er schüttelt den Kopf. Sein Schiff, die Captain Markos, ist in der Ausstellung abgebildet! „Man hat über Afrika fahren müssen, das Schiff war total überladen, in den Lagerräumen sind die Leute gelegen. Wir sind siebzig Tage um das Cap der Guten Hoffnung herum gefahren, weil am Suezkanal ein Krieg war! Nur in Dakar durften wir hinaus aus dem Schiff.“
Im Pferdestall
Über Lager in Bari und Trani in Italien erreichte die Familie Wien. „Wir sind am Nordwestbahnhof angekommen. Man hat sich gefreut, dass man nach Wien kommt. Wir bekamen Pferdeställe zur Verfügung gestellt, die wir putzen mussten und in denen wir zwei Wochen lang wohnten. Vielleicht hat noch jemand verdient daran“, sagt er resigniert. „Dann lebten wir im Wiedner Krankenhaus im vierten Bezirk, wir hatten Leintücher zwischen die Betten als Trennung zu den anderen Menschen hin gehängt.“ Seine Oma musste schon vor den Nazis sehr leiden: „Ihr Bruder, dem ich sehr ähnlich sehe, brachte sich mit 18 Jahren um. Daher habe ich diese Einstellung: Ich will mich nicht umbringen lassen, auch nicht von mir selber! Aus Gram über den Tod ihres Sohnes brachte sich meine Uroma 1938 um und weil der Uropa wegen des Möbelgeschäftes Schwierigkeiten hatte auszuwandern, hat er sich ebenfalls selbst gemordet.“ K.s arme Mutter verlor also kurz hintereinander Onkel, Oma und Opa.
„Ich habe die inneren Bilder, ich brauche die äußeren nicht“, sagt er auf der Straße vor dem Museum. Es klingt etwas trotzig. Aber Herr K. erzählte immer in der Reihenfolge der Räume in der Ausstellung. Immer wenn er eine Situation schilderte, tauchten punktgenau die passenden Bilder auf. Die Ausstellung ist sehr gut gemacht. Zur Beruhigung gehen wir unten im Jüdischen Museum noch auf einen Kaffee. Sein Plastiksackerl voller Erinnerungen steht am Boden neben seinem Sessel.
Bis 18. April
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