Ins Gras fallen lassenDichter Innenteil

Der Pfeil ist abgeschossen und fliegt. Wann er trifft, bleibt ungewiss (Illustration: © Jella Jost)

Cherchez la Femme (September 2024)

Über das Alter(n)

Doris Dörrie schreibt wunderbar leichtfüßig ­schwebende ­Bücher mit Tiefgang. Das ­letzte Buch, das ich von ihr las, war eine Art japanische Miniatu­ren. Weil ich noch nie in Japan war. Weil ich schon lange davon träume, dorthin zu ­reisen. Ob das noch was wird, in meinem ­mittlerweile immer kürzer sich ­vorwärts bewegenden Dasein? ­Bewege ich mich oder bewegt sich die Zeit? Läuft die Zukunft von vorne nach hinten, an mir und mit mir vorbei, wie beim Zugfahren? Ist die Zeit jene Sekunde, die ich gerade ­erlebe, eine nach der anderen? Oder rase ich in ­einem unfassbar schnellen Tempo durch den Kosmos mit der Zeit, was ich aber nur im Zeitlupentempo wahrnehmen kann? Bestehe ich aus Zeit? Sind Atome, ­Moleküle eigentlich Zeit? Offensichtlich habe ich ­meine ganz ­bestimmte Zeit. Warum wir uns auf das Ende dieser vermeintlichen Zeitspanne festlegen und es Tod nennen, ist ein Enigma. Tot, so wie aus und vorbei, tschüss und baba oder ins Gras beißen. ­Beziehungsweise fallen ­lassen, wie ­Doris Dörrie es formuliert. Also mehr ein Lassen als ein aktives Reinbeißen. Gefällt mir gut so. Ach ja, da bin ich direkt beim Tod. Huch! Das war nicht ­meine Absicht, das schreckt die meisten Menschen doch unerwartet zu sehr und sie wenden sich vom ­Thema ab; aber, ihr Lieben, er ist ­unabwendbar. Sicher, er oszilliert sehr weit weg im noch völlig undurchsichtigen Nebel der ganz Jungen, doch bei den Älteren lichtet sich der Dunst und man sieht Abschnitt für Abschnitt klarer, und umso weiter. Je ­älter ich werde, desto weiter wird mein Denken, mein gefühlsmäßiges Denken. Ich übe mich im Vermeiden von Interpretation. Soweit das im Alltag möglich ist. Das soll man nicht unterschätzen. Nun nennen wir den Tod kurzerhand auf Wienerisch Quiqui, mein absolutes Lieblingswort. Quiqui, das klingt wie ein Quietschentchen, das gedrückt wird, wie ein bunter tropischer Vogel, der sich auf meiner Schulter niederlässt. ­Quiqui, das kommt ­wahrschein­lich aus dem Romanischen und bedeutet «wer auch immer», ein Verb wird da unnötig. Wir wissen, worum es geht. ­Wollen es lieber nicht aussprechen. Apropos ­Vogel, da fällt mir eine höchst wunderliche ­Szene aus meinem Leben ein, die ich nie vergessen werde, die ich hier erzählen möchte. Hoffentlich liest ­meine wunderbare Tochter, die ich über eineinhalb Jahre nicht mehr gesehen habe, diesen Essay, denn es geht bei dem Vogel um sie. Es begann so: Ich hatte ein Engagement als Schauspielerin. Wir fuhren mit dem Nachtzug nach Bregenz auf Tournee. Ein paar Stunden davor ­zeigte mir ein Schwangerschaftstest, ich bin positiv. Da ratterte die gesamte Sorgenkette im Hirn los, was wird mein Partner ­sagen, wird er zu mir stehen, wie wird es mir gehen und wie werde ich die ­lange Zugfahrt allein, im bescheidenen Liege­abteil, seelisch überstehen? Die ­Sorge erwies sich als unbegründet, und ich nahm mir einen Schlafwagen. Nachts gegen 22 Uhr fuhr der Zug los. Ich trank noch einen Tee, freute mich auf das Theaterspielen und meine tragende Rolle, das Leben war auf einmal noch aufregender als zuvor. Ich stieg in mein Bett und war wirklich die einzige im Abteil. Mir fehlte mein Partner sehr in diesem Moment. Damals gab es kein Handy, zu dem ich hätte greifen können, um mit ihm Kontakt aufzunehmen.

Der schwarze Rabe

Ich lag auf dem obersten Bett im Abteil und starrte an die Wand, dämmerte langsam vor mich hin, der Waggon schaukelte bei der langen Ausfahrt und den vielen Gleiswechseln aus dem Südbahnhof hinaus (wie er damals noch hieß). Ich war also weder wach, noch schlief ich, doch mit völligem Bewusstsein im Hier und Jetzt. Plötzlich sah ich einen großen Raben auf mich zufliegen und dachte, ich werde jetzt verrückt. Ich wusste, dass ich nicht wirklich etwas mit den Augen sah, dennoch sah ich ganz deutlich dieses Tier auf mich zukommen. Ich wurde ängstlich und wartete, was passieren würde. Steif lag ich in meinem Bett und starrte auf die Decke des Waggons. So schlief ich ein. Ich erzählte das Erlebnis meinem Partner. Beide wussten wir nicht wirklich etwas damit anzufangen. Neun Monate später, es war kurz vor der Geburt meiner Tochter, las ich ein Buch über indigenes Brauchtum. Und dort fand ich den großen Vogel. Am 21. Tag nach der Empfängnis fliegt die Seele des Kindes in Gestalt eines schwarzen Vogels zur Mutter. So der Glaube. Heißt geboren werden nicht auch sterben? Elke Heidenreichs aktuelles neues Buch Altern beginnt in einem fulminanten Tempo, das mich mitreißt, als flöge sie durch Zeit und Raum der Literatur, gespickt mit Zitaten aus aller Welt. Und zu Recht führt sie Marguerite Duras an. Ich las einst ihr Buch C’est tout (Das ist alles), welches sie ein Jahr vor ihrem Tod verfasste. Es hat mich zutiefst erschüttert. Da kriecht der Tod grausam in voller Härte neben einer her und lässt Duras schreiben, über Einsamkeit, Liebe und Angst im Angesicht des Todes, über den tiefsten Schmerz, nämlich den endgültigen Verlust des eigenen Lebens – aus der Welt fallen! Ich wünsche jedem Menschen Leichtigkeit und Liebe beim Abgang. Liebe zu sich, eine meiner Übungen in Dauerschleife, Liebe zu den anderen. In ihrem Roman Der Liebhaber, schreibt Heidenreich, schreibt Duras über das Alter: Eines Tages, ich war schon alt, kam in der ­Halle eines öffentlichen Gebäudes ein Mann auf mich zu. Er stellte sich vor und sagte: «Ich kenne Sie seit jeher. Alle sagen, dass Sie schön gewesen sind, als Sie jung waren, ich bin gekommen, ­Ihnen zu sagen, dass ich Sie jetzt schöner finde als in ihrer Jugend, ich mochte Ihr junges Gesicht weniger als das von heute, das verwüstete.» Heidenreich schreibt über die Schönheit gelebter Gesichter, die ihre Lebensspuren nicht beseitigen lassen. Ein besseres Pendant zum allgegenwärtigen Beauty-Body-Trend, der ausschließlich auf Äußeres fokussiert, dressiert und damit ziemlich viel Geld verdient, gibt es nicht, und es ist wichtig das rauszuschreien: Alte Gesichter sind schön! Sie sind lebendig! Glaubt nicht alles, was ihr hört und lest! Passt euch nicht allem an! Und vor allem: Bildet euch eine eigene Meinung! Aber spätestens nach dem ersten Viertel des Buches ufern die andauernden Zitate einfach aus. Man hat sie satt. Genug von Elke Heidenreich. Das kann jede. Sie schreibt zum Beispiel über Depressionen und über die «gefährlichen» Medikamente. Mir haben die «gefährlichen» Medikamente gegen Depressionen damals das Leben gerettet, liebe Elke, die du anscheinend von Depression null Ahnung hast, aber haben müsstest, wenn du mit deinem prominenten Namen diesen Nonsens rausposaunst. Das ist achtlos und empörend gegenüber allen, die darunter leiden, und nicht nur das, was du schreibst, ist gefährlich. Zumal du schreibst, dass Depressionen meistens nur Melancholie seien. Das ist unfassbar, was du da schreibst, Kollegin, und derartige Unwahrheiten werden publiziert?! Melancholie unterscheidet sich sehr wohl von Depression. Und Depression kann medikamentös behandelt und geheilt werden. Damit hier Klartext gedruckt wird!

Literatur-Insel-Hopping

Nun gut, weiter geht’s im Buch von Heidenreich mit dem Literat:innen-Hopping, von einem Zitat zum nächsten und dazwischen ein bisschen was Eigenes reinmischen, damit die ganz Chose nicht zu auffällig simpel rüberkommt. Mehr oder weniger ist das Buch eine Sammlung von Zitaten zum Thema Altern. Die Tiefe kann man lange suchen, im Herumhopsen von einem Thema, von einem Autor zur nächsten Autorin bleibt Heidenreich beständig an der Oberfläche. In ein paar Punkten hat sie ja recht, wenn sie zum Beispiel über den gerne zitierten Generationenkonflikt spricht. Dass die Alten an allem schuld sind, ist lächerlich, und dem muss lautstark widersprochen werden, und das tut Heidenreich.
«Wir haben aufgebaut, was ihr nach unserem Tod erbt, und das ist nicht nur eine kaputte Welt, das sind durchaus Werte, mit denen man etwas Gutes anstellen kann. Die Jungen waren immer im Vorteil – sie hatten das Leben, das wir hinter uns haben, noch vor sich […]. Aber niemand hat doch mit einer solchen Entwertung des Lebens gerechnet – durch Kriege, Klimawandel, Schuldenberge, Nationalismus. Aber wir sind nicht nur die selbstsüchtigen alten Deppen, verdammt nochmal. Wir haben Greenpeace gegründet, Amnesty International, die Grünen, gegen Waldsterben gekämpft […], uns aus der unterdrückten Sexualität befreit, aus der Ehe, und wir haben nicht die Klimakrise zu verantworten, das sind vor allem die Großindustrien, weltweit!»
Und Österreich? Österreich hat das Klimaticket. Raus aus dem falschen Denken!

Ein Buchtipp:
Doris Dörrie: Die Reisgöttin, Diogenes 2024
Kein Buchtipp:
Elke Heidenreich: Altern, Hanser 2024

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