Inseln, wo sich Reichtum und Armut versteckentun & lassen

Guernseys Hauptstadt St Peter Port – ein sicherer Hafen nicht nur für Schinakel (Foto: Mirjam Reither)

Augustin Reportagestipendium 2023

«Wo is das ganze Knedl hin?», fragte der Augustin in der Ausschreibung für sein Reportage-Stipendium 2022. Eine Antwort liefert eine Reise auf die Kanalinseln Guernsey und Jersey, wo viele Knedl-Vermögen landen, aber lange nicht alle davon abbeißen können.

Der französische Fährhafen Saint-Malo gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis. An vier Meter hohem Maschen­drahtzaun vorbei führt der Weg auf die Fähre nach Guernsey. Stachelband­rollen verstärken die Drahtmauern, unter denen die Passagiere im Gänsemarsch Richtung Schiff trotten. Seit dem Brexit ist der Ärmelkanal ­wieder EU-Außengrenze. Tourist:innen und Saisonarbeiter:innen dürfen nach wie vor passieren, Flüchtlinge und Migrant:innen sollen mehr denn je von den britischen Inseln ferngehalten werden.
Die Fähre legt ab. Im Sommer 1852 hat der französische Schriftsteller und Politiker Victor Hugo denselben Blick zurück auf den Kontinent genossen. Stimmt nicht, er war auf der Flucht, hat auf der Fahrt ins politische Exil mit Wehmut zurückgeschaut. «Die Kanalinseln sind ins Meer gestürzte Stücke Frankreichs, die England aufgesammelt hat», beschreibt Hugo seinen sicheren Hafen für die nächsten achtzehn Jahre. Zunächst wird ihn Jersey aufsammeln, danach darf er in Guernsey ankommen. Sein Wohnhaus, heute ein Museum, in der Rue Hauteville der Hauptstadt Saint Peter Port liegt auf einer Anhöhe über dem Hafen. Hier vollendete er seinen bis heute in Filmen und Musical-Produktionen gefeierten Roman Les Misérables (Die Elenden).

Froschgrüne Höhle

«The Caves», «Die Höhlen», steht auf einem froschgrün gestrichenen Haus vis-à-vis der Dreifaltigkeitskirche von Saint Peter Port, fünf Minuten Gehzeit von Hugos Haus die Straße hinunter entfernt. Erst beim Verlassen dieser Einrichtung des Guernsey Wohlfahrtsdienstes und einem Gespräch mit Sozialarbeiterin Susi Glegg erschließt sich der Name. Was die Gruft in Wien ist, ist «Die Höhlen» in Guernsey. Eine kirchliche Sozialeinrichtung für obdachlose Menschen, eine Anlaufstelle für soziale Notfälle, zum Wäschewaschen, zum Duschen «oder um auf einen Kaffee vorbeizuschauen, zum ­Socialising, zum Plaudern», sagt Glegg, «wenn das Leben dunkel wird». Jeden Tag die Woche gibt es eine Essens­ausgabe, Freitagabend ein Gemeinschaftsessen. Vor der Covid-Pandemie hätten sie 25 Rationen verteilt, mittlerweile seien es doppelt so viel. Das Büro der Sozialarbeiterin gleicht einer Greislerei. Regale voller Obst und Gemüse, Trauben dort, Kukuruzkolben da. Daneben brummt ein XL-Kühlschrank, gefüllt mit Milchprodukten … Versorgt wird die Sozialeinrichtung mit übrig gebliebener Supermarkt-Ware.
Das Lager in Gleggs Büro zeigt nur ­einen kleinen Ausschnitt des The-­Caves-Angebots. Im Innenhof steht ein Container mit Haushaltsartikeln, Kleidung, Möbeln … «Wir sind nicht nur eine Lebensmittel-Bank, wir sind eine Multi-Bank», sagt Glegg. «Wir wollen schnell helfen, bevor die Schuldenfalle zuschlägt.» Mit steigender Inflation kämen immer mehr Menschen in die Höhlen, bei denen trotz Arbeit das Geld nicht mehr reicht. Eine junge Frau, arbeitslos, alleinstehend, das dritte Kind unterwegs, fragt nach einem Doppelbett. «Wir haben in der Gemeinde auch kritische Stimmen, die sagen, es wäre besser, sie ließe sich sterilisieren», zeigt Glegg in die Abgründe der Sozialdebatte auf Guernsey, «aber wir sind eine christliche Charity, wir verurteilen nicht, die Lebensläufe der Menschen sind nicht immer so simpel.»
Extrem hinauf und radikal ­runter wogt auch das Meer vor Guernsey. Auf den Kanalinseln gibt es einen der höchsten Gezeitenwechsel der Welt. Der ­Tidenhub beträgt bis zu zwölf ­Meter. Während der Flut noch stolz auf dem Wasser tanzende ­Segelschiffe im ­Hafen, sind sie wenige Stunden ­später schon von der Ebbe in Schlick und Sand gedrückte Geisterboote.

Jede:r kennt jede:n

­Peter Roffey schaut aus wie ein Matrose: Vollbart im ­Gesicht und einen marine­farbenen «Guernsey» am Leib. Den Wollpullover trugen die Insu­laner schon 200 Jahre, bevor ­Victor Hugo auf Guernsey landete. Früher war am Ärmel ein Muster der jeweiligen Fami­lien eingestrickt. Wurde ein Pullover angeschwemmt, wusste man, wer der Verunglückte war. Roffey braucht kein Erkennungszeichen, der 65-Jährige ist auf der Insel eine Marke. «Ich kenne Peter, wir sind zusammen in die Volksschule gegangen», sagt der Taxifahrer, womit sich eine Adressangabe erübrigt. «Auf der Insel kennt jeder jeden», kommentiert Roffey seine ­Bekanntheit und verbindet damit sogleich einen Auftrag: «Wir sind eine kleine Gemeinschaft, umso mehr sollten wir aufeinander schauen.» Roffey wohnt in einem verwunschenen Häuschen in der Insel­mitte. Dass der Ort das Denken bestimmt, trifft bei ihm zu. Der parteilose Langzeit-Abgeordnete im Guernsey-Parlament steht für Mitte, für Ausgleich, für Pragmatismus. Auf ­Guernsey ­gehöre er mit seiner Position aber zum linken politischen Spektrum, sagt er: «Wir sind eine sehr konservative und traditionell eingestellte Gesellschaft, Sozialpolitik ist bei uns schwierig.»
Erst unlängst musste er das als Vorsitzender des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Sicherheit wieder erleben. Der von ihm unterstützte Antrag auf Einführung einer ­Verbrauchersteuer, um mit den Einnahmen gezielt ­Menschen mit geringem Einkommen oder Mindestpensionen zu unterstützen, fand keine Mehrheit. So wie Sozialarbeiterin Glegg sieht auch Sozialpolitiker ­Roffey die Schere zwischen Arm und Reich auf der Insel immer weiter auseinandergehen. «Wir haben hier keine Armut wie in der ‹Dritten Welt›, die Armut bei uns ist versteckt, verschwiegen, geht auch aus Scham und verletztem Stolz einher.» In den hohen ­Wohnungskosten sieht ­Roffey die größte Armutsgefährdung. «Obdachlosigkeit wird auch bei uns zum Problem. Die Leute leben zwar nicht auf der ­Straße, kommen mit ­Sofasurfing ­irgendwo unter, aber es ist nicht alles Luxus hier.» Das musste Roffey auch bei ­Reisen ins Ausland immer wieder klarstellen, wenn mit seiner Herkunft das Bild vom Steuerparadies verbunden wurde «und alle dachten, bei uns leben nur Millionäre».
Einen Nachmittagsspaziergang von Roffeys Haus entfernt, kann man das in einem Bunker untergebrachte Militärspital der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs besichtigen. Heute ankern deutsche Kreuzfahrtschiffe vor Guernsey und Jersey, schippern mit Beibooten Tagesausflügler auf die Inseln. Auch als Hafen für deutsche Anleger:innen sind die Kanalinseln ­beliebt. Laut Recherche der «Süddeutschen Zeitung» waren 2018 auf Konten in Jersey mehr als 180 Milliarden Euro, und damit mehr deutsche Gelder als in der Schweiz oder Liechtenstein geparkt.

Ein Brief für Charles III.

Zu seiner Krönung im Mai bekam King Charles III. deswegen einen Brief vom «Tax Justice Network», in dem er aufgefordert wurde, die von seinen Kronbesitzungen geförderte Steuerungerechtigkeit abzustellen (siehe Kasten). Allein Jersey und Guernsey, lautet die Anklage im Brief an den König, verursachen im Rest der Welt jedes Jahr ­Steuerausfälle von über 6,9 Mrd. Pfund (8 Mrd. Euro).
Ein Vorwurf, den Ian Gorst zurück­weist. Der Augustin trifft den Finanzminister von Jersey im Regierungsgebäude der Hauptstadt Saint Helier. Gorst war in den vergangenen 20 Jahren auch schon zweimal Chef-Minister, davor Arbeits- und Sozialminister, danach Außenminister. In der Fußgängerzone vor seinem Amtssitz steht ein alter Mühlstein. Reminiszenz an die von Landwirtschaft geprägte Vergangenheit. Nicht zufällig haben Jersey-Bäuer:innen aus Jersey-Kühen eine weltweite Premiummarke gemacht. Mit dem durch Geographie und Geschichte bedingten Zwitter-Status britisch genug zu sein, um das Pfund zu haben, aber nicht britisch genug, um Steuern zu zahlen, ­konnte sich Jersey seit den 1950er-Jahren als Premium-Destination für die Offshore-Industrie entwickeln. Finanzminister Gorst ­ärgert, dass Jersey nach wie vor die Punze «Steueroase» aufgedrückt bekommt. «Das sind vorgefasste Meinungen, die längst nicht mehr den Tatsachen entsprechen», sagt er. Jersey erfülle freiwillig den EU-Verhaltenskodex, dasselbe gelte für die OECD-Richtlinien zum Informationsaustausch, auch bei der globalen ­Mindeststeuer (s. Interview) sei Jersey mit an Bord.
Nach so viel Kompromissbereitschaft beharrt Gorst aber auf einem Widerspruch: «Dass jedes Land den gleichen Steuersatz einheben soll, akzeptieren wir nicht. Der Steuerwettbewerb muss die Entscheidung demo­kratisch gewählter Parlamente bleiben.» Jedes Land organisiere ­seine Finanz- und Steuerpolitik gemäß den Bedürfnissen seiner Bevölkerung, sagt Gorst: «Bei Jersey ist das ­genauso, wir besteuern auf dem Niveau, das wir für die Finanzierung unserer staatlichen Ausgaben brauchen.» Wie passt das zu Meldungen, laut denen ­jeder vierte Haushalt und jedes vierte Kind in Jersey in relativer Armut lebe, die Wohnungskosten für einen immer größeren Teil der Bevölkerung unerschwinglich werden? «Solche Schlagzeilenverlangen nach einer tieferen Analyse», ­antwortet Gorst. Die Regierung setze gezielte Sozi­almaßnahmen gegen die Teuerung. Das Budget sei vorhanden, rechnet der Finanzminister vor, denn höhere ­Inflation bedeuten höhere Zinssätze und damit für einen Finanzplatz steigende Gewinne.

Betongold – Sozialwohnungen

Geld, das auch in Betongold für die Allgemeinheit investiert werden soll. Bis 2030 will der staatliche Wohnbaubetreiber «Andium» 3.000 neue Wohnungen schaffen, nennt Lindsay Wood, Andium-Leiterin für Finanzen und Betrieb, bei einer Baustellenführung durch die Hauptstadt die Zielvorgabe. 4.700 Sozialwohnungen mit über 10.000 Bewohner:innen hat Jersey derzeit – bei 100.000 Einwohner:innen. Zum Vergleich: Knapp 500.000 der knapp zwei Millionen Wiener:innen leben in rund 220.000 Gemeindewohnungen. Wood weiß von der Geschichte des ­sozialen Wohnbaus in Wien, fragt nach Kontakten, um Erfahrungen auszutauschen. Sozialer Wohnbau bedeutet für sie, «mehr als nur ein Vermieter und Bauträger zu sein», sondern schließt auch die «Entwicklung von Gemeinschaften, in denen Menschen gerne zusammenleben» mit ein. Und eingehüllt vom Lärm rotierender Betonmischmaschinen, so dass man sie fast nicht versteht, sagt Wood noch eine Prämisse ihrer Arbeit, die nicht in das übliche Bild von ­Jersey passen will: «Der wichtigste Grund, warum es funktioniert, ist, wir suchen nicht den Profit.»

 

Info:

Charles III. und die Kanalinseln

Wien ist anders, heißt es. Für die im Ärmelkanal zwischen Frankreich und Großbritannien verstreuten Kanalinseln gilt das noch viel mehr. Als Überbleibsel des historischen Herzogtums Normandie (Richard Löwenherz & Co) besitzen Jersey und Guernsey ­sowie kleinere bis hin zu winzigen Nachbarinseln (insgesamt 22) einen Sonderstatus. Sie sind ­weder ein Teil des Vereinigten Königreichs noch eine Kronkolonie. Als Vogteien (engl. «Bailiwicks») mit eige­ner Gesetzgebung und Rechtsprechung unterstehen sie als Kronbesitzungen unmittelbar der britischen Krone. Ausschlaggebend dafür ist, dass Charles III. mit seiner Krönung unter anderem auch den Titel des Herzogs der Normandie übernahm. Die Kanalinseln waren aufgrund dieser speziellen Stellung auch nie Mitglieder der EU. Diesen Sonderstatus hat sonst nur noch die Isle of Man. So wie diese Insel in der Irischen See können Jersey und Guernsey ihr Steuerrecht eigenständig gestalten. Niedrige Steuersätze (keine Körperschafts-, Kapitalertrags-, Erbschafts- oder Schenkungssteuer, Einkommenssteuer maximal 20 Prozent) machen sie zu einem attraktiven Finanzplatz für internationales Kapital. Der prominenteste «Kanalinsulaner» österreichischer Herkunft ist der im Vorjahr rechtskräftig zur persönlichen Haftung gegenüber ­einem getäuschten Anleger verurteilte Julius Meinl V. Der ­frühere Vorstand der Meinl Bank hatte mit dem Anleger:innengeld ­Zertifikate einer 100-prozentigen Meinl-Bankentochter mit Sitz auf Jersey ­erworben.

 

Charles III. und die Steuergerechtigkeit

Zum Anlass der Krönung von Charles III. hat das in Großbritannien ­ansässige «Tax Justice Network» (TJN) dem neuen König einen offenen Brief mit der Forderung geschrieben, «das britische Netzwerk von Satelliten-Steuerparadiesen» in den britischen Kronbesitzungen und Überseegebieten zu reformieren (mehr dazu in der Kanalinsel-Reportage).
Das TJN ist ein ­internationales Netzwerk, zu dem u. a. Organisationen wie Attac, Tax ­Justice ­Europe, Finance Watch oder Oxfam gehören. Das Netzwerk betreibt Forschung und Beratung zu Steuervermeidung und -hinterziehung, Steuerwettbewerb, Finanzintransparenz und Steueroasen. Die Steuer- und Finanzsysteme «sind unsere mächtigsten Instrumente, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, die den Bedürfnissen aller Menschen gleich viel Gewicht einräumt», begründet das TJN seine Arbeit: «Doch unter dem Druck von Unternehmensgiganten und Superreichen haben unsere Regierungen diese Systeme so programmiert, dass sie die Wohlhabendsten gegenüber allen anderen bevorzugen und Finanzgeheimnisse und Steueroasen zum Kern unserer globalen Wirtschaft machen. Wir arbeiten daran, diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen, indem wir Menschen und Regierungen dazu inspirieren und befähigen, ihre Steuer- und Finanzsysteme neu zu programmieren.» Dazu trägt auch der TJN-Schattenfinanzindex bei, in dem die Rolle von zuletzt 82 Staaten und Hoheitsgebieten als Finanzplatz für Steuervermeidung und -hinterziehung bewertet wird. Im ­Index 2020 belegt Guernsey den 11. Platz. Jersey liegt auf Rang 13. Österreich wird auf Platz 36 gereiht.

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