Instrumentalisierung des Kölner Silvesterstun & lassen

Welche «Ethnie» macht das Oktoberfest zum Risiko für Frauen?

Wenn es stimmt, dass die «mob-artigen» Überfälle auf Frauen während des Silvesterrummels im Zentrum von Köln Teil des «Kriegs mitten in Europa» waren, ist das Münchner Oktoberfest für die Opfer schon lange ein katastrophalerer Kriegsschauplatz. Text und Foto von Robert Sommer.Man stelle sich vor: Der Mann, der seine Frau umbrachte, zerstückelte, die Stücke in Koffer zwängte und das makabre Gepäck in den Traunsee warf, wie vor einigen Tagen geschehen, wäre ein syrischer Asylwerber gewesen. Kein Bürgermeister wäre vor die Presse getreten, um zu betonen: «Das ist für mich ein unglaubliches Rätsel. Ich kannte ihn seit Jahren als anständigen Bürger». Und kein Blatt, auch nicht ein als deutschkritisch bekanntes, hätte den Umstand, dass der Zerstückler Hildegards als Vorstand des Karnevalsvereins einer Kleinstadt bei Frankfurt/Main allgemein angesehen war, für so eine Schlagzeile ausgenutzt: «So sind sie, die Deutschen!»

Doch ein «So sind sie, die syrischen Männer» oder «… die nordafrikanischen Männer» – weder die Polizei noch die Redakteur_innen waren in Bezug auf die Herkunft der Täter so pingelig – war in den letzten Wochen hunderttausend Mal zu hören und zu lesen. Die Angriffe junger Männer, die gleichzeitig aus Nordafrika und aus dem Nahen Osten stammen, auf «deutsche» Frauen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln erwiesen sich als Wasser auf die Mühlen aller Gegner_innen einer humanen und verfassungsadäquaten Asylpolitik. Die Rache der Online-Community war massiv wie nie. Kommentare wie «Lasst die Schweine in ihren Drecksländern verrecken. Die kommen 100 % mit dem Ziel zu vergewaltigen und zu morden, das war mir von Anfang an klar! Jetzt ist es zu spät, die Katastrophe hat begonnen», vermehrten sich ins Inflationäre.

Den österreichischen Revolverblättern gelang es nicht, zu verheimlichen, dass sie gerne über ähnliche Rasereien des orientalischen «Sexmobs» in den Silvesterfesten österreichischer Städte geschrieben hätten. Diesbezügliche Versuche fielen recht kläglich aus. Ein Beispiel: «Auch in Wien soll ein Sex-Mob gewütet haben: Ein ÖSTERREICH-Leser berichtet von Vorfällen auf dem Calafatiplatz (Prater) in der Silvesternacht: Junge Frauen seien von ausländischen Männern begrapscht worden. Laut Polizei gab es aber keine Anzeige.» Die «Kronen Zeitung» betrachtete die Ereignisse in Köln durch die Augen der – früher als meistgehasste Frau publizistisch vernichteten – Alice Schwarzer, die zur «streitbaren Frauenrechtlerin« geadelt wurde. In sensationeller Übereinstimmung mit der Krone-Redaktion sieht sie die Massenübergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln als Folge einer «falschen Toleranz» und «gescheiterten Integration» und ist überzeugt: «Die jungen Männer, die in der Silvesternacht den Terror in Köln gemacht haben, spielen Krieg mitten in Europa.» («Kronen Zeitung»,

7. Jänner 2016).

Eine Feministin aus anderem Holz, die durch ihre Aktionen gegen den Sexismus deutscher Politiker bekannte Anne Wizorek, musste Frau Schwarzer daran erinnern, dass es im relativ unweit von Köln liegenden München jedes Jahr zu verheerenderen «Kriegen mitten in Europa» komme. Das Münchner Oktoberfest ist nicht nur das größte Volksfest, sondern auch das größte kollektive Besäufnis der Welt. Neben Schlägereien im Bierzelt kommt es wie gesetzmäßig zu sexualisierten Übergriffen, vom Angrapschen im Gedränge bis zu Vergewaltigungen. Diese dem langlebigen Patriarchat geschuldeten Aggressionen werden von Jahr zu Jahr spürbarer, worüber die Frauen der Aktion «Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen» ein Lied singen können. Immer mehr Dirndel tragende Opfer männlicher Gewalt suchen diese Beratungsstelle auf. Noch nie war ein Nordafrikaner die Ursache dieser Flucht aus der Wiesn. Als Dunkelziffer der Vergewaltigungen pro Wiesn werden unglaubliche Zahlen genannt.

Jeder Übegriff sei einer zu viel, sagte Anne Wizorek in einem Interview in der «Frankfurter Zeitung». Sexualisierte Gewalt von Migranten müsse genauso verurteilt werden wie von Nicht-Migranten. Gerade sexualisierte Gewalt zeichne sich dadurch aus, dass sie überall und von allen Schichten verübt wird.

Rechte Politiker, leider auch einige Feministinnen, nützten die Vorgänge in Köln für rassistische Hetze aus. Sexismus durchziehe unsere gesamte Gesellschaft, sagte Wizorek. Wir sollten das Thema nicht nur dann entdecken, wenn es um Täter mit Migrationshintergrund geht. Das Thema immer erst dann in den Fokus zu nehmen, wenn die Aggressionen von muslimischen Männern ausgehen, sei genauso stupide wie das Nichtinte­resse der Mainstreammedien gegenüber den deutschen muslimischen Männern, die sich für eine gleichberechtigte Gesellschaft stark machten.

Sexualisierte Übergriffe, betonte Wizorek in diesem Gespräch nochmals, geschehen jeden Tag und nicht nur zu Silvester in Köln. Zahlen des Bundesfamilienministeriums zeigten: Knapp 60 Prozent von Frauen in Deutschland wurden bereits sexuell belästigt, jede siebente hat strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt erfahren. Diese Zahlen seien lange bekannt, dringen aber nicht in die aktuelle, von Köln ausgelöste Debatte ein.

Zur Frage, was sie vom Tipp der Kölner Oberbürgermeisterin halte, Frauen sollten stets ein Armlänge Abstand halten, meinte Anne Wizorek: Eigentlich finde sie es nicht in Ordnung, zu sagen, Mädchen und Frauen müssten ihr Verhalten ändern. Die Männer seien es, die ihr Verhalten ändern müssen.

Manche scheinen gerade in diesem Lernprozess zu stecken. Angeblich waren es Männer, die an eine Kölner Wand sprayten: «Wenn wir schon verallgemeinern müssen: Nicht Ausländer, sondern Arschlöcher belästigen Frauen.»