irgendwann was Schlimmes passierttun & lassen

Trauma-Forscherin mit Fokus auf Südosteurooa

Die Politik und die verletzte Seele. Ihr würde ganz viel einfallen, um mehr Gerechtigkeit ins Asylwesen zu bringen, sagt die Psychologin und Trauma-Expertin Dr. Brigitte Lueger-Schuster im Augustin-Interview. «Es fragt mich das Innenministerium allerdings nicht!»

Sie sind frischgebackene Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für Psychotraumatologie (ESTSS). Wie ist das Profil dieser Gesellschaft?

Sie ist auf dem Weg, sich zu verändern in Richtung einer Schirmherrschaft für nationale Gesellschaften, die sich mit Psychotraumata beschäftigen und will Wissenschaft, Forschung und Praxis verbinden. Ziel ist, dass alle Menschen, die von Psychotraumata betroffen sind, die bestmögliche Behandlung und natürlich auch Zugang dazu bekommen. Denn die Behandlung von Folgen einer Traumatisierung sind anders als das, was man üblicherweise in der Psychotherapie macht. Wir brauchen Forschungsergebnisse z. B. darüber, wie viele Menschen in Europa von welcher Art der Traumatisierung betroffen sind? Dieses Wissen sollte dann umgesetzt werden in Behandlungsrichtlinien.

Wie wird Trauma definiert?

Trauma bedeutet: Jemandem passiert etwas wirklich Schlimmes, das alles, was man bislang erlebt hat, außer Kraft setzt. Das, was da passiert, ist unvorstellbar, unerwartet und verbindet sich in der Regel mit Todesangst und Hilflosigkeit. Wenn man in so einer Situation ist, kann das schwerwiegende psychische Folgen haben. Die Trennung einer Beziehung etwa ist schlimm, aber kein Trauma. Aber wenn ich in einer Beziehung lebe, in der ich permanent misshandelt werde, kann ich traumatisiert werden. Und natürlich geht es um Krieg, sexuelle Gewalt, Katastrophen, Überfälle, all das kann Traumata auslösen.

Die Zielsetzungen von ESTSS sind internationale. Wie stufen Sie Österreich in diesem Verbund ein?

Österreich hat eine ständig wachsende Kenntnis im Bereich der Psychotraumatologie, es gibt insbesondere Flüchtlingshilfeorganisationen, in denen mittlerweile sehr gut ausgebildete Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater tätig sind, das gilt auch für die Kinderhilfeeinrichtungen. In einigen Segmenten ist es wirklich ganz gut.

Wo sehen Sie Defizite?

Vor allem im Bereich der Finanzierung sowieso im Flüchtlingsbereich, aber auch im Kinderbereich. Es gibt viel zu wenige Kinderpsychotherapieplätze, die auch mit traumatisierten Kindern gut umgehen können. Und ich sehe ein herankommendes Problem mit dem Aufdecken von Missbrauchsfällen in Heimen und Institutionen im kirchlichen Kontext. Es gibt zu wenig Versorgungsmöglichkeit für die betroffenen Personen, weil die zum Teil schon sehr lange leiden, was ein spezifisches Know-how erfordert. Aber das Thema Trauma ist in Österreich, glaub ich, ganz gut verbreitet. Was möglicherweise noch nicht ausreichend verbreitet ist, ist das Kennen von den wirklich wirksamen Methoden. Da bin ich ganz froh, dass sich der Österreichische Berufsverband für die Psychologen entschieden hat, ein Mitglied in der Europäischen Gesellschaft zu werden.

Welche Schwerpunkte wollen Sie als Präsidentin setzen?

Meine Vorgängerin aus Holland hat ganz viele Kontakte hergestellt, hat den Schirm vergrößert, und mein Ding wird sein, dass dieser Schirm auch wirklich gut funktioniert. Außerdem hab ich mir vorgenommen, noch ein Stück in Richtung Südosteuropa zu gehen.

Ist die Herangehensweise je nach kulturellem Hintergrund eine andere?

Ja, aber auch die Frage: Was war in den Ländern bislang an psychosozialer Versorgung vorhanden. Die osteuropäischen Länder sind dominiert von einem langen Wirken von alldem, was in der ehemaligen Sowjetunion Thema war. Die fangen jetzt an, sich mit sprechender Therapie (ohne Beigabe von Medikamenten, Anm. d. Red.) zu beschäftigen, Interventionen, die bei uns lange schon bekannt sind.

Sie haben im Juni in Wien den Kongress «Psychotraumatologie und Menschenrechte» organisiert. Es fällt auf, dass Sie nicht nur international, sondern auch sehr interdisziplinär arbeiten.

Das war bewusst so gestaltet, auch weil unsere Schwerpunktsetzung Interdisziplinarität erfordert. Die Folgen von Traumatisierung sind interessant für mehrere Disziplinen die Psychologie, die Medizin, die Psychotherapie, auch für die Juristen, Soziologen und natürlich Künstler und Journalisten.

Gibt es neue Aspekte, die Sie aus dem Kongress mitnehmen?

Wir haben Kollegen aus Japan eingeladen, die sehr intensiv mit der internationalen Gesellschaft kooperiert haben, die stark amerikanisch geprägt ist. Die haben gesagt, dass ihnen die Vielfalt, die wir in Europa haben, gut tut. Es ist wichtig, kulturspezifische Vielfalt zu berücksichtigen, auf die unterschiedlichen Situationen einzugehen, die Traumata hervorrufen. Für uns Organisatoren war es wichtig, den Leuten nicht nur gute Wissenschaft und Trainings zu bieten, sondern auch den Rahmen, um gut miteinander ins Reden kommen zu können. Das war für mich am beeindruckendsten, diese intensive Diskussion, die stets gelaufen ist, bei den Kaffeepausen, den Abendveranstaltungen. Es hat mir gezeigt, dass es jede Menge Menschen gibt, die sehr gerne in diesem Bereich arbeiten, ohne dabei selbst zu leiden zu beginnen.

Das klingt nach Aufbruchstimmung.

Eher Konsolidierung. Der Aufbruch war in den deutschsprachigen Gebieten vor etwa 20 Jahren, als wir mit den Flüchtlingen aus den Balkanländern konfrontiert waren. Da sind die großen Institutionen gegründet worden, die sich explizit mit Folgen von Krieg und Folter beschäftigt haben. Damals sind auch die ersten größeren Forschungen bei uns gemacht worden. In Amerika war der Auslöser für intensive Beschäftigung mit der Psychotraumatologie der Vietnamkrieg. Insofern ist es kein Aufbruch, aber eine breite Bewegung geworden. Ich erinnere mich an einen Traumakongress in den frühen 90ern in Jena mit 80 Leuten. Jetzt waren wir 850! Es wächst ständig und das ist gut.

Was mich noch besonders beeindruckt hat, heißt «trauma informed services», d. h. dass alle, die in der psychosozialen Versorgung tätig sind, über Psychotrauma informiert sein sollen. Das ist z. B. wichtig für Ärzte. Die haben damit oft überhaupt nichts zu tun, merken aber trotzdem die Reaktionen, etwa wenn sie eine Frau gynäkologisch untersuchen, die vergewaltigt wurde. Das ist z. B. relevant, wenn Menschen sich bei Untersuchungen ausziehen müssen und für alle, die mit Kindern zu tun haben. Dort überall sollte man ein Stück weit lernen: Aha, da könnte was sein. Und dann die richtige Frage stellen. Und die heißt nicht: Sind sie vergewaltigt worden? Weil darauf sagen die meisten: Nein! Das ist mit Scham besetzt. Die Frage lautet: Ist ihnen irgendwann mal was Schlimmes passiert? Das Trauma-Informiertsein ist ein wichtiger Punkt.

Wenn das österreichische Innenministerium bei Ihnen um Beratung anfragen würde, gibt es Punkte, die Sie ändern wollten? Was wünschen Sie sich?

Im Asylwesen würde ich mir eine sehr viel klarere Regelung wünschen, die es erlaubt, dass Menschen Asyl erhalten. Ich würde mir bessere Recherchen in den Herkunftsländern wünschen damit man weiß, was dort wirklich passiert, und dass diejenigen, die jetzt das Gros der Asylwerber empfangen und anfänglich betreuen, sehr viel besser ausgebildet sind als jetzt, d. h. in Summe ein sehr viel gerechteres Verfahren. Ich würde mir wünschen, dass mit dem Bereich Schubhaft viel sorgfältiger umgegangen wird, ein Bereich in dem Menschen im Moment viel Schlimmes angetan wird; dass man insgesamt mit Menschen, die leiden, einfach sach- und fachgerechter umgeht, da kann man vieles vermitteln was z. B. Gefängnis betrifft, Anhaltungen, Verhaftungen, Obdachlosigkeit. Auf die Art und Weise, wie die Polizei mit Obdachlosen umgeht, hat ja auch das Innenministerium indirekt Einfluss. Da gibt es eine ganze Reihe Menschen, die schwerst traumatisiert sind. Ich glaube, man könnte dem Ministerium einfach viel Faktenwissen vermitteln bis hin zu Überlegungen wie: Wie werden bei Prozessen Zeugen geschützt, Einvernahmen geführt, warum glaubt man einem Opfer weniger als einem Täter, also forensische Fachfragen. Ich würde mir auch wünschen, dass die Gutachter, die in Prozessen zu Rate gezogen werden, zum Teil besser ausgebildet sind. Also mir würde ganz viel einfallen. Es fragt mich das Innenministerium allerdings nicht.