Cherchez la Femme
In einem Hotel an der Wienzeile treffe ich am Freitagnachmittag eine der wichtigsten Aktivistinnen der First Nations People aus dem Stamm der Cree, Jackie Hookimaw aus Attawapiskat, Ontario, Kanada.
© Jella Jost
Jackie beklagt sich nicht. Sie konstatiert nur
Jackie ist Doktorin der Soziologie. Es war schwer für sie, zu studieren, die nächste Universität liegt 1200 Kilometer weit entfernt. Jackie hatte für ihre Ausbildung Sponsoren gefunden, die die Kosten ihres Studiums übernahmen, denn es ist ein Mythos, dass die First Nations unterstützt werden, eine Verfälschung der Tatsachen. Eine höhere Schulbildung absolvieren maximal 30 % der Natives. Es ist unübersehbar, wie Ungleichheit geschaffen wird. Kanada rangiert auf Platz 6 des Human Development Index. Kanadas First Nations liegen auf Platz 63. Die Communities sind seit Jahrzehnten verwahrlost, bewusst politisch vergessen und marginalisiert. Man hat sie seelisch kastriert, ihrer Identität beraubt, ihr Land weggenommen und durch die Industrie Menschen, Flora und Fauna vergiftet. Nehmen wir also unseren Blick nicht weg von sozialen Missständen, Not, Elend. Wir können daraus lernen, dass dies nicht die Schuld dieser Menschen ist. Und dass es uns selber schneller treffen kann, als wir glauben. Berechnung und Profit gehen Hand in Hand. Mitgefühl und Verbundenheit werden links liegengelassen. Irgendwann aber müssen diese beiden wieder über die Hintertür hinein. Mit Sicherheit.
Nur fünf Minuten duschen
In ihrem kleinen Zimmer empfängt mich eine Atmosphäre der Bescheidenheit, Herzlichkeit und Wärme. Jackie sitzt im Ledersessel mit angezogenen Beinen wegen ihrer Gastritis. Sie sagt, der Stress wegen der zahlreichen Selbstmorde der Kinder und Jugendlichen im Reservat – 28 Suizidversuche an einem Tag – habe Spuren hinterlassen. Ich nicke, frage nicht viel. Jackie spricht weiter. Attawapiskat kann man nur mit dem Flugzeug erreichen oder hinpaddeln, es liegt in einer der größten Sumpflandschaften der Welt. Im Winter, erzählt sie mir, sei es leichter, dorthin zu kommen, in den Norden Kanadas, man könne dann mit dem Auto bei den oft minus 40 Grad den gefrorenen Sumpf überqueren. Wenn der Blizzard kommt, steckt man möglicherweise tagelang in Eis und Schnee. Ich erzähle kurz, dass ich in Kanada drei Monate im Wald lebte, in einem Zelt, als ich jung war, und dort meine Yoga-Lehrer_innen-Ausbildung machte. Die Landschaften, durch die ich mit meinem Ami-Schlitten fuhr, nahmen damals kein Ende, die Dimension Wälder, Wasser, Weite kannte ich nicht. Jackie nickt mit dem Kopf. Aber sie könnte in ihrer Heimat Kanada kein Hotel betreten, sie würde kein Zimmer erhalten, da Indianer wild, gefährlich, drogenabhängig und unberechenbar wären. Alteingesessene Vorurteile. Schwarz gegen Weiß. Blond gegen Rabenschwarz. Reinweiß gegen Schmutzbraun. Noble Blässe gegen Kakao. Zartbeige gegen Tiefdunkel. Hölle gegen Himmel. Und eine westliche Industrie-Gesellschaft, die dem Burnout-Leistungs-Geld-Gott dekadent-calvinistisch huldigt: De Beers Diamantminen, Chrom-Vorkommen, Ölindustrie, Pipelines. Auch soll man nur kurz duschen. Das Wasser isr verseucht. Es sei gefährlich. Der Lebensmittelriese Nestlé setzt noch eins obendrauf: In der größten Provinz, Ontario, setzt er alles daran, die Kontrolle über das Grundwasser der Region zu erlangen. Gerade erst hat Nestlé einer weiteren Stadt die Wasserrechte entzogen. Die Stadt kann langfristig die Trinkwasserversorgung ihrer Bewohner_innen nicht mehr sicherstellen. Die Regierung weiß von allem.
Wir leben im untersten Keller eines bereits gefährlich kontaminierten Systems
In Flüssen, Erde, Wasser, Tieren findet man Quecksilber und Arsen. Die Häuser sind kaputt, überbelegt und verschimmelt. Kinder und Erwachsene sind krank. Krebs ist häufig. Keine ärztliche Betreuung. Alles nur über Email und Internet. Keine Bildung. Keine Ausbildung. Keine Förderung. Alles wurde versprochen, Millionen. Nichts davon wurde eingehalten. Seit vielen Dekaden in einer angeblichen Demokratie. Es ist einleuchtend, dass Demokratie zwar funktioniert – offenbar nur für Eliten und Lobbys. Justin Trudeau befürwortet viele Projekte, die eine ökologische und humane Katastrophe sind, erzählt Jackie. Für unsere Werte ist das so, als ob man uns die Lunge nimmt, unser Herz herausschneidet, unsere Lebensgrundlage. Wasser ist vergiftet durch den Raubbau an Bodenschätzen, die Tiere sind vergiftet, die wir jagen und essen, Gänse, Rentiere, Elche, Fische. Und man lächelt über uns und unsere Liebe zu Mutter Erde, es wird runtergemacht, und die Weißen erkennen nicht, dass sie sich selbst ruinieren, ja sukzessive vernichten. Man sieht uns nicht als ebenbürtige Partner_innen, nicht als Geschäftspartner_innen, man nimmt uns nicht als gleichwertig wahr, das ist das Grundübel. Sie entziehen uns Ausbildungen und Jobs. Damit machen sie uns abhängig von der Regierung. Dabei gäbe es Notwendigkeiten, Lehrer_in oder Krankenpfleger_in zu werden. Damit könnten wir arbeiten und parallel unserer indigenen Kultur angehören und sie frei ausüben.
Unsere Frauen machen Kleidung aus den Fellen der gejagten Tiere, Schuhe und vieles andere mehr. Wir verwenden alles vom Tier. Wir glauben auch daran, dass wir gleichberechtigt sind, Frauen und Männer. Wir teilen uns die Arbeit. Alle betreuen Kinder. Alle jagen. Es ist ein komplementäres System. Durch die Regierung aber sind wir unterdrückt, sie legen Gesetze auf, die uns unterdrücken. Durch den Indian Act von 1876 übernahm die kanadische Regierung uns quasi als Mündel des Staates und somit auch die Kontrolle über alle Aspekte unseres Lebens und unserer Gemeinschaften. Bei Assimilation mit «Weißen» erlosch der Indianer-Status im Sinne des Indian Act genauso wie der unserer Kinder. Dieses Gesetz wurde 1961 geändert. Seit 1985 können Frauen ihren Status zurückgewinnen und an ihre Kinder weitergeben, nicht jedoch an ihre Enkel. Dazu wird zwischen Voll-Status und Halb-Status unterschieden. Auch war es uns bis in die 60er-Jahre nicht erlaubt zu wählen. Das männliche Dominanz-System wird auch uns brutal übergestülpt.
Verkehrung der Tatsachen
Die Suizid-Wellen kommen wie ein Virus, wie eine Lawine, höre ich Jackie langsam erzählen, in ganz Kanada sind Suizide von Kindern und Jugendlichen der First Nations People an der Tagesordnung. Kanada übt Gewalt gegen diese Kinder aus, weil es ihnen ärztliche Hilfe und sozialen Schutz verweigert. Ja, so ist das bei uns, sagt Jackie, wir bieten den Ökonom_innen und Politiker_innen keine finanziellen Vorteile, da wir ein anderes Denken und einen anderen kulturellen, spirituellen Hintergrund haben. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich in den Köpfen der Menschen nichts geändert. Kolonisation: Man hat uns alles genommen und behauptet danach, wir hätten keinen Wert, man müsse uns bekehren. Der moralische Anspruch Kanadas als «internationaler Bewahrer der Menschenrechte» kann nur als Spott und Hohn betrachtet werden, angesichts der menschlichen Katastrophe, die in allen Reservaten Kanadas stattfindet. Zwar existiert seit 2007 die UN-Deklaration für die Rechte der Indigenen, doch wurde sie damals von vier Ländern nicht angenommen: USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Australien und Neuseeland haben die Deklaration aber mittlerweile akzeptiert. Angesichts der Ignoranz und Untätigkeit gegenüber der Gewalt an indigenen Frauen verstößt Kanada gegen internationales Recht, gegen die UN-Deklaration für die Rechte Indigener Völker und die UN-Konvention gegen Gewalt an Frauen. Die Vereinten Nationen haben die kanadische Regierung für deren Untätigkeit aufgrund dieser bestürzenden Situation wiederholt scharf kritisiert. Was passiert weiter? CETA, weiterhin mehr Macht den Konzernen, die eine ökologische, humane Apokalypse vorantreiben.
Die Spezies Mensch verfügt über ein vielfältiges Gräuel-Kompendium, denke ich. Ich ziehe dem Menschen oft das Tier vor. Es ist ehrlicher. Es ist einfacher zu handhaben, denke ich mir im Stillen.
Jackie aber beklagt sich nicht. Sie konstatiert nur. In Winnipeg, einer großen Stadt im Norden, wurden 1200 Mädchen vergewaltigt und umgebracht. Die Kriminalfälle werden nicht untersucht. Diese Gewalt resultiert aus einer systematischen Zerstörung und einer restriktiven Gesetzgebung der indigenen Kulturen, deren Konsequenzen bis ins 21. Jahrhundert wirken. Schon die Strukturen, die indigenen Gemeinden und Nationen aufgezwungen wurden, stehen in einem krassen Gegensatz zur der traditionell starken Rolle der Frau in den indigenen Gesellschaften. Die indigenen Frauen haben unter dem Erbe des Kolonialismus und der aktuellen Indianergesetzgebung doppelt zu leiden, denn sie werden sowohl als Indigene wie auch als Frauen diskriminiert. Indigene Frauen würden als Huren wahrgenommen und seien selber daran Schuld, vergewaltigt und umgebracht zu werden, erzählt Jackie. Insofern ist auch hier zu erkennen, wie wichtig die Umsetzung feministischer Grundwerte für die allgemeinen Menschenrechte ist. Der Kampf für Feminismus und Gleichberechtigung dient allen Menschen dieser Erde. Selbstverständlich auch Männern. Denn alle Menschen aller Geschlechter leiden unter patriarchaler, militarisierter Gewalt und zerstörerischem Denken und Handeln. Die weltweiten Bewegungen sprechen eine andere Sprache. Auf sie hoffe ich. Auf den Zusammenhalt, die Kraft und den Aktivismus vieler Menschen, die einer ökologischen und humanen Katastrophe entgegensteuern.
[INFO]
Kanadische Natives vertreiben ihre traditionell hergestellten Waren auch über Online-Shops. Viele dieser Projekte werden über Mikrokredite finanziert. Info über Organisationen und wie frau_man sie unterstützen kann, sind über jackie.hookimaw@gmail.com erhältlich.
Jackie Hookimaw auf twitter.com/muskegesko
Arbeitskreis Indianer Nordamerikas (akin): www.arbeitskreisindianer.wordpress.com
«CETA/TTIP: Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu Lasten Indigener Völker – Kolonialismus mit anderen Mitteln» von G. Maringer und M. Mayer in «International. Die Zeitschrift für internationale Politik» II 2015. (auch als Pdf-Dokument auf der akin-Homepage)
*Cherzchez la Femme ist eine Redensart: Da steckt die Frau dahinter. Wörtlich: Sucht die Frau