Jagd im Mandelbaumgartentun & lassen

Briefe an den Vater

Hallo Vater! Es ist Freitagabend. Nach einem anstrengenden Tag nach der Arbeit gehe ich noch fort. Mit einem Freund treffe ich mich. Es wird sehr spät. Zu Fuß möchte ich nach Hause gehen. In dem Moment kommt der Nachtbus. Es sind viele junge Leute drin. Nach 3 Stationen steige ich aus. Viele steigen aus. In der Dunkelheit durch die raschelnden Herbstblätter, ein bisschen durch Alkohol angeheitert, schlendere ich stadtauswärts. Hinter mir Schritte von Stöckelschuhen. Wie ein galoppierendes Pferd entfernen sich diese Schritte von mir.Es war in Elazig. Da war ich 9 Jahre alt. Unterhalb unseres Hauses gab es einen riesigen Obstgarten. Der gehörte einem Großgrundbesitzer. Er hatte einen Wächter für diesen Garten engagiert. Du warst wieder nicht da. In dem Garten gab es auch einen Brunnen. Die Leute holten sich das Trinkwasser. Eines Tages gingen ein paar Freunde und ich frische Mandeln klauen. Der Garten war nicht umzäunt. Wir schlichen uns leise hinein. Und ahnten, dass der Wächter in der Nähe sein müsste. Trotz alledem wollten wir unbedingt frische Mandeln essen. Es war doch Frühling. Im Frühling isst man als Erstes frische Mandeln. Wir näherten uns mit leisen Schritten, wie Jagende in der Wildnis, den Mandelbäumen. Plötzlich sehen wir den Wärter unter einem Mandelbaum das Abendgebet verrichten. Er hatte bei sich neben dem Gebetsteppich eine Schrotflinte (ich habe nie gehört, wie er auf die Vögel geschossen hat!). Sofort hörte er mit dem Beten auf und war schon hinter uns her. Obwohl er über 50 war, lief er sehr schnell. In dem Wirrwarr lief jeder von uns dreien in eine andere Richtung. Jeder von uns hoffte, dass er nicht verfolgt werden würde. Natürlich habe ich den Verfolger bekommen. Die anderen waren anscheinend geübter im Weglaufen als ich. Der Wächter hat sich mich vorgeknöpft. Obwohl er die schwere Schrotflinte mit sich trug, war er mir auf den Fersen. Die Zeit kam mir sehr lang vor. Ich lief und lief, er war immer hinter mir. Wo ich hingelaufen bin, gab es keine Menschenseele. Bergaufwärts konnte ich nicht mehr laufen. Irgendwann mal habe ich den Kurs gewechselt und bin Richtung Mama gelaufen. Er schrie hinter mir her. Geschossen hat er nicht, aber die Angst, die er mir eingejagt hat, ist mir bis heute geblieben.

Es war fast dunkel, als ich bei den Häusern ankam. Davor saßen Frauen und Männer, unsere Nachbarn. Ich hatte keine Kraft mehr. Als ich die Nachbarn sah, lief ich zu ihnen. Das war meine Rettung. Vor lauter Erschöpfung fiel ich in Ohnmacht. Einer der Männer schimpfte mit dem Wächter. Der Wächter sagte gar nichts. Mit seiner Schrotflinte begab er sich leise und mit langsamen Schritten in die Dunkelheit. Man gab mir Wasser. Die Verfolgung kam mir vor wie mehrere Stunden. Von meiner Mutter war weit und breit immer noch nichts zu sehen.

Nach einer Verschnaufpause merkte ich, dass weder Mutter noch Vater für mich da waren. Das hat in mir ein Gefühl der Ohnmacht ausgelöst. Das mir vielleicht bis heute geblieben ist. Auch wenn ich erwachsen bin, in vielen anderen Lebenslagen habe ich diese Angst nicht von mir abschütteln können. In Beziehungen usw.

Zwar ist keiner mehr hinter mir her, aber das Gefühl werde ich nicht los. Das erste Mal schreibe ich dir darüber. Es ist die Angst, allein gelassen zu sein. Auch manche Menschen, die ich in meinem späteren Leben kennen gelernt habe, haben mich in schwierigen Situationen allein gelassen. Ich glaube, es ist an der Zeit, das Leben hier auszuleben. „Ich bin ich“ hinauszuschreien, mit Ängsten und Stärken.

Bis bald, Vater!