… staunend mit Musik, die aus dem E ein U macht
Die künstlerischen Erfahrungen ihrer ersten zehn Bühnenjahre ließ die Musikerin Jelena Popržan in das Soloalbum La Folia fließen.
Text: Rainer Krispel, Foto: Mario Lang
Gerade noch lenkt die Bratschistin und Sängerin in Davie, dem ersten Stück von La Folia, den Blick auf die «ganz vielen kleinen Würmer», die, vom 40. Stock aus beobachtet, auf der Straße mehr und mehr werden. Schon hebt The Exorcism of Gwendolyn an, das einzige Stück des Albums, bei dem Popržan (5-stringed viola, voice, mouth fiddle, glas harp, loops) von anderen Musiker_innen unterstützt wird, von Lina Neuner am Kontrabass und Tahereh Nourani mit der Flöte. Ist Davie eine Komposition zu einem Theaterstück von Sascha Marianna Salzmann, stellt uns Jelena beim zweiten Stück frei, unsere Phantasie auf den Titel anzuwenden. Meine Assoziation zu Sweet Gwendoline von John Willie geht sich ob der Schreibweise nicht ganz aus, aber die Vorstellung eines Exorzismus hat in dem Kontext ihren gedankenspielerischen Reiz. Es nimmt kaum wunder, dass wir mit L’Émigrant (Charles Aznavour/Marc Heyral), ob wir Französisch verstehen oder nicht, von den Realitäten von Flucht und dem Völkermord an den Armeniern berührt werden.
La Folia.
Es folgen weitere zehn Stücke, alle dicht gewoben und gespielt. Das Booklet liefert wichtige Informationen und Kontext(e), was Jelena im Konzert pointiert mit ihren Moderationen tut. Zweifelsohne ist es der klassisch ausgebildeten Interpretin Popržan gelungen, im Studio mit Franz Schaden «die Fehler zu jagen», wie sie den Prozess der Aufnahme beschreibt. Als Album ist La Folia vergleichbar einem langen Radiofeature mit breitem, eben nicht beliebigem thematischem Spektrum, dass mensch beiläufig, ohne definierte Erwartungen gefunden hat, das einen im Wortsinn hineinzieht und Staunen macht. Jelena betont die Wichtigkeit des «dramaturgischen Bogens», in dem das Solomaterial, das sie sich in ihren zehn Bühnenjahren neben und zum Spielen mit Catch-Pop String-Strong oder Madame Baheux erarbeitet hat, angeordnet wurde. Zentral X Y Variations on La Folia, eine über 16-minütige spannende künstlerische Reflexion über die aus dem 16. Jahrhundert stammende, nicht nur in Spanien und Portugal populäre «Kompositions- und Improvisationsvorlage». Jelena Popržan, die aus Serbien nach Österreich kam, um an einer Expositur der Grazer Uni zu studieren, hat darüber den theoretischen Teil ihrer Masterarbeit verfasst. Die Fragen nach Komposition und Improvisation, oder die mit der bürgerlichen Gesellschaft in der materiellen Vergütung eingeführten Unterscheidungen von E- und U-Musik, die die Beschäftigung mit La Folia stellt, sind spannend bis mindblowing. «Ich habe Bach und La Folia auf dem Album, habe das zu U-Musik degradiert.» Musikarbeiter: «Erhoben!»
Wean.
Mit Ende des Studiums und dem Leben in Wien begann die Geschichte der eigenständigen Künstlerin Jelena Popržan, die eben nicht für die Sicherheit eines Lebens als Orchestermusikerin brannte. «Mich hätte das Orchester gestört und ich das Orchester.» Die Begegnung mit Richard Schuberth, Partner in Kunst und Leben, lieferte anfangs noch notwendige Ermutigung und wertschätzende Reflexion im Überwinden der eigenen Zweifel. Bis Jelena Popržan mit La Folia wo angekommen ist, was sie selbst als Wendepunkt sieht. «Ich weiß ein bisschen mehr, was ich will.» Ob der mit dem Album gültig festgehaltenen einmaligen Qualität ihrer Soloarbeit klingt das wie ein Versprechen weiterer großer Musik.
Seit gut fünf Jahren ist sie zum Daueraufenthalt in ihrer Wahlheimat Wien berechtigt. Den Irrsinn, dass solche Eben-nicht-Formalitäten in unserer Welt an Einkommen gebunden sind, streifen wir kurz. Der Hauptstadt singt sie mit Wean, aus der Feder ihres Partners, ein ganz großartiges Lied (den Text finden Sie in diesem AUGUSTIN auf S. 36). Eines, das zu ihrer durch und durch meta-funky Menschen-/Erwachsenenbildungs-Musik (wäre das nur more funky zu benennen!) von La Folia, dessen vielsagender Vielsprachigkeit so wunderbar passt, wie es sich den vermeintlichen Eindeutigkeiten, den Identitäts- und Wertekittungen, die sonst bei noch so wohlmeinenden solcher Stücke «passieren», gekonnt entzieht und von Jelena gesungen die Brüche leben lässt, die Übergänge lebendigen Lebens aufsucht. «Dann bleib ruhig die Hauptstadt fia olle, / die söba net bei si’ daham san.»
Jelena Popržan: La Folia (Lotus Records)
www.jelenapoprzan.com