«Jeder Mensch ist heiliger Boden»Artistin

Soziale Randgruppen: Vom Fürsprechen zum Selbstsprechen

Freak Radio, ein Rand-Radio, lud drei Menschen zur Diskussion. Augustin-Sozialarbeiter und Fotograf Mehmet Emir, Philosoph und Tänzer Michael Turinsky und Emmausgemeinschaft-Mitarbeiter Bernhard Herzberger philosophierten über das Zentrum und die Ränder.

Wenn Mehmet Emir an seine Mama schreibt, signiert er neuerdings mit «Dein Sohn Mag.art. Memo». Eh klar, es ist mit einem Augenzwinkern, Mehmet würde seiner Mama nicht auf Deutsch schreiben, höchstens auf Kurdisch. Doch seine Briefe im Augustin sind ohnehin für die Österreicher_innen bestimmt, zur Selbstreflexion.

Doch Mehmet kann noch so sehr zwinkern der Mag.art.-Titel ist ein Zeichen. Für ihn, das Gastarbeiterkind, das mit 16 am Bau zu arbeiten begann. Und für alle anderen. Er heißt nun Magister Emir, wenn er bei Behörden vorstellig wird. Wie fühlt es sich denn an im Zentrum der Gesellschaft?

«Ach, Zeeentrum», sagt Mehmet, und er sagt es, also sei es der ödeste Platz der Welt. «Vielleicht bin ich inzwischen sprachlich im Zentrum. Aber wenn es um die Existenz geht, wenn es um das Finanzielle geht, da ist man in Wien sehr schnell am Rande.» Da reiche ein halbes Jahr Arbeitslosigkeit.

Zentrum, Rand, das sind Begriffe, die ihn gar nicht tangieren. Es war Freak Radio, das sich für das Thema interessierte und drei Menschen zur Diskussion lud. Freak Radio ist ein Radio für Menschen mit Behinderungen. Ein Rand-Radio, das im Zentrum des Radiolebens haust, im ORF-Funkhaus. Dort verkehren die Freak-Radio-Mitarbeiter_innen unbezahlt, aber immerhin in bester Bürolage.

Auch Michael Turinsky hat solch widersprüchliche Erfahrungen gemacht. Er hat Philosophie studiert. Was früher Inbegriff des Wissens war, gilt heute als Orchideenstudium, schön, aber nutzlos. Doch nicht deswegen fühlt sich Turinsky am Rande. Er hat Zerebralparese und benötigt etwas mehr Zeit, um seine glasklar formulierten Sätze auszusprechen. Als Mensch mit einer Behinderung wird er fast automatisch an den Rand geschoben, da kann er noch so gut philosophieren. Das erlebte er bei vielen Versuchen, zu einem Job zu kommen. So bewarb er sich auch bei SOB, einer von der Caritas geleiteten Ausbildungsstätte für Behindertenbetreuer. Als er keine Rückmeldung bekam, bat er jemanden, der dort studierte, einmal nachzufragen. Worauf jemand sagte: «Keine Antwort ist auch eine Antwort.»

«Das finde ich halt sehr bedauerlich», sagt Turinsky. «Es wäre politisch außerordentlich wichtig, wenn zumindest ein behinderter Mensch dort im Lehrkörper vertreten wäre. Sehr problematisch, aber auch typisch für die österreichische Landschaft, wo lieber über bestimmte Randgruppen gesprochen wird, anstatt dass sie selber sprechen können.»

Als Freak Radio telefonisch nachfragte, ob keine Antwort wirklich eine ausreichende Antwort sei, reagierte SOB-Leiter Hannes Meyer erschrocken. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von uns das gesagt haben könnte. Aber es stimmt, ich habe Herrn Turinsky nicht geantwortet.» Dann rascheln Papiere, und nach einer halben Minute hält Meyer Turinskys Bewerbung in den Händen. Fast so, als ob der Brief aus dem Jahr 2009 immer bereit liegt, so wie das schlechte Gewissen, das Hannes Meyer nun plagt. Er habe Turinskys Aufsätze über den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan gelesen und fände sie sehr gut. Zwar wisse er nicht, wie er Turinsky für die Ausbildung von Behindertenbetreuern, die hauptsächlich für die Arbeit mit Menschen mit «geistiger Behinderung» ausgebildet würden, einsetzen könne, und vor allem auch sei das Gebäude nicht barrierefrei, aber er werde sich die Sache noch einmal anschauen.

Turinsky ist längst woanders. «Ich habe ein Feld gefunden, auf dem ich meine Arbeit wertgeschätzt fühle. Paradoxerweise, trotz meiner physischen Einschränkung.» Er wurde Tänzer und Choreograph bei Danse brute. «Ich muss mich auch nicht selber dauernd anbieten, sondern die Leute gehen auf mich zu und fragen mich, ob ich mit ihnen arbeiten könnte oder möchte. Das ist natürlich eine ganz andere Erfahrung.»

Behinderte Menschen sind eine Randgruppe. Migranten sind eine Randgruppe. Migrantinnen sind eine doppelte Randgruppe, zum Migrantischen kommt das Frau-Sein dazu wobei da der «Rand» paradox klingt, schließlich stellen Frauen in der Bevölkerung die Mehrheit dar. Doch Migrant_innen können auch ins Zentrum der Gesellschaft gelangen, manche werden gar hofiert und geehrt. Die Grenze zwischen gerade angenehm Exot_in und viel zu viel Exot_in ist etwas Fließendes. Auch alkoholkranke Obdachlose sind eine Randgruppe, aber schon beim Begriff «Alkoholiker» wird es diffizil. Alkoholtrinkende stellen die Mehrheit im Lande, Alkoholiker finden sich auch im Zentrum, bei den Spitzen der Gesellschaft, die Grenze zwischen normal viel und viel zu viel Alkohol ist etwas Fließendes.

Bei Alkohol setzt die Emmausgemeinschaft St. Pölten Grenzen. «Wir sind da sehr streng», sagt Bernhard Herzberger. «Man muss Möglichkeiten suchen oder Angebote annehmen, um wieder den Start ins neue Leben zu wagen.» Gegründet wurde die Emmausgemeinschaft vor 30 Jahren vom Theologen Karl Rottenschlager, der sich speziell um Haftentlassene kümmerte. «Jeder Mensch ist heiliger Boden. Wenn man das als Voraussetzung nimmt, dann dürfte niemand am Rand stehen.» Haftentlassene seien heute 30 bis 40 Prozent jener Menschen, um die man sich kümmert, dazu kämen Obdachlose, minderjährige Flüchtlinge, Menschen in psychischen Krisensituationen.

«Was ist denn das Zentrum?», fragt Mehmet Emir. «Das wird nicht von uns bestimmt. Es wird vom System bestimmt, ob wir da reinpassen oder nicht. Es findet immer eine gewisse Selektion statt. Wenn wir vom Zentrum reden, sind wir sehr schnell beim Leistungsdruck. Wir müssen immer etwas leisten, immer noch mehr tun. Deswegen haben irrsinnig viele Menschen Burnout. Keiner fragt uns, wo wir hinwollen.»

«Wenn man auf die ökonomischen Verhältnisse blickt, muss man einfach sagen, dass natürlich das Kapital im Zentrum steht», wirft Michael Turinsky in die Freak-Radio-Diskussion. «Solange das so ist, wird es immer Leute geben, die am Rande stehen. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit unserem Anspruch, Menschen ins Zentrum zu bringen, nämlich auch ökonomisch, dann wird sich etwas ändern müssen daran, dass das Kapital im Zentrum ist.» Das scheint die Moderatorin glatt zu erschrecken. «Das ist aber eine sehr schwere Aufgabe», wirft sie ein. Mehmet Emir lacht. «Ja. Ansprechen dürfen wir es trotzdem.»

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