100 Tage Schwarz-Blau – Eine Bilanz
Kurz vor Weihnachten letzten Jahres wurde Sebastian Kurz zum jüngsten Bundeskanzler in der Geschichte der Republik ernannt. Seither verausgabt er sich im Verein mit der FPÖ darin, die Wunschliste seiner Geldgeber aus Industrie, Finanz und Immobilienwirtschaft abzuarbeiten. Johanna Jaufer und Samuel Stuhlpfarrer haben sich die bisherige Arbeit der Bundesregierung genauer angesehen.
Illustration: Stefanie Sargnagel
Es war ein kurzer Moment im vergangenen Frühjahr, der den Regierungsstil des heutigen Bundeskanzlers im Kleinen vorwegnehmen sollte. Ende Mai 2017 war der Wahlkampf längst eröffnet: Medial herrschte Aufregung um eine vom ÖVP-Finanzministerium beauftragte Studie, die das Modell «Hartz IV» auf Österreich umlegen sollte. «Kaltherzig» nannten Kritiker diese Überlegungen der Volkspartei. Deren neuer Parteichef Sebastian Kurz rückte aber nicht zur Verteidigung der ÖVP aus. Über die Agenturen ließ er nur knapp verlauten, man bleibe der eigenen Linie treu und «antworte auf ‹Angriffe› nicht mit Gegenangriffen». In der eigentlichen Sache erklärte an Kurz’ Stelle das Finanzministerium: «Ein Modell wie Hartz IV war und ist in Österreich nicht geplant.» Zu Jahresende schließlich war Sebastian Kurz nach einem explosiven Wahlkampf und großen ÖVP-Zugewinnen als Regierungschef angelobt worden, und die bürgerliche Presse titelte: «Jetzt kommt Hartz IV.» Niemand aber konnte den neuen Bundeskanzler der Lüge bezichtigen. Er hatte sich genau genommen ja auch nie konkret zum Thema selbst geäußert.
Speed kills II.
Zu kritischen Fragen schweigt der jüngste Kanzler der Zweiten Republik seitdem konsequent. Das hat er von Wolfgang Schüssel gelernt, dem Chef der ersten schwarz-blauen Koalition während der 2000er-Jahre. Als Teenager war Sebastian Kurz von Wolfgang Schüssel beeindruckt der ÖVP beigetreten. Mit der Floskel «Speed kills» bedachte der ÖVP-Grande Andreas Khol damals Schüssels Taktik, möglichst schnell möglichst viele politische Maßnahmen auf einmal zu treffen, um die Opposition regelrecht zu überrollen. Ähnlich hält es jetzt auch Kurz. Zügig will er die Wunschliste seiner Geldgeber aus Industrie, Finanz und Immobilienwirtschaft abarbeiten: «Marktkonforme» Mieten hatten die gefordert, tiefe Einschnitte ins Arbeits- und Sozialrecht und Steuererleichterungen für die Wirtschaft. Der vermeintlichen Gefährdung der inneren Sicherheit sollte mit der Aufstockung der Polizeikräfte und einem umfangreichen Überwachungspaket begegnet werden. Nicht zu vergessen, die immer weitreichenderen Einschnitte für neu zugewanderte Menschen – deutlicher als in ihrem Regierungsprogramm hätten Kurz, Strache und Co. ihre Pläne kaum darlegen können.
Rigide Inszenierung.
Gleich am Neujahrstag wurde demgemäß das Aus für das Beschäftigungsprogramm «Aktion 20.000» bekannt. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Ein steuerlicher «Familienbonus» wurde fixiert, den aber nur Vielverdiener voll nutzen können. Der 12-Stunden-Tag soll möglich, Betriebsräte geschwächt werden und die Unterstützung für Arbeitslose bald deutlich niedriger ausfallen – Hartz IV eben. Asylwerber_innen drohen zahlreiche weitere Grundrechtseinschränkungen vom Bargeldeinzug bei Ankunft im Land über Benachteiligungen in der Mindestsicherung bis hin zur Androhung, künftig in «Großquartieren am Stadtrand» untergebracht zu werden. Mitte März legte Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) sein erstes Budget vor. Es schreibt diese Vorhabensgeschichte fort. 2, 5 Milliarden Euro sollen die Kürzungen beim AMS und bei «Integrationsprogrammen» bringen, eine weitere Milliarde will man in der Verwaltung sparen. Schwer auszudenken, dass das nicht unmittelbar erneute Kürzungen im Sozialbereich meint. All das ereignet sich vor dem Hintergrund einer Wirtschaftslage, die erhebliche zusätzliche Mittel in den Staatshaushalt spült. Und in die Kassen privater Unternehmen, deren Profite auch weiterhin nicht angemessen steuerlich belastet werden sollen.
Eine ganze Reihe von Quereinsteiger_innen bringt diese Vorhaben im Namen von ÖVP und FPÖ konkret auf den Weg. Wirtschafts- und Finanzministerium sind mit ehemaligen Manager_innen besetzt, andere Jobs haben jahrelange Weggefährt_innen und Berater_innen von Sebastian Kurz erhalten. Der 31-Jährige ist damit vom Einfluss der ÖVP-Teilorganisationen und Landeshauptleute weitgehend freigespielt und kann sich voll auf Koordination und Außenauftritt konzentrieren. Und das ist aus Sicht des Bundeskanzlers auch dringend notwendig. Denn ihre rigide Inszenierung von Einigkeit und Harmonie bildet gegenüber der Bevölkerung die einzig tragfähige Klammer um diese Regierung aus Rechtskonservativen und Rechtsextremen. Dafür wurde in Ministerien und Bundeskanzleramt ein mächtiger Apparat aus einem Heer an Öffentlichkeitsbeauftragten installiert. Mit Peter Launsky-Tieffenthal gab sich die Regierung einen eigenen Sprecher, und über die allen Ministerialbeamten neu vorgesetzten Generalsekretäre können die Minister_innen zukünftig tief in die Verwaltung «hineinregieren».
Die Affäre BVT.
Dass auch von Anfang an geplant war, die Generalsekretäre in Vertretung ihrer Chefs zu so vielen Medienterminen zu schicken wie aktuell Christian Pilnacek aus dem Justizministerium, darf allerdings bezweifelt werden. Die zu Monatsbeginn ins Rollen gekommene Affäre um das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) könnte das Bündnis zwischen ÖVP und FPÖ auf eine echte Probe stellen. Völlig überhastet – so weit die bisherige Darstellung in den Medien – hatte im dem Innenministerium angegliederten BVT eine Hausdurchsuchung stattgefunden. Dabei könnte es laut Opposition nicht nur um angebliche «Datenvergehen» gegangen sein, sondern auch um eine schlichte Umfärbung des Nachrichtendienstes. Schon vor Monaten waren bei der Staatsanwaltschaft anonyme Anzeigen mit aufsehenerregenden Anschuldigungen eingelangt, die jetzt für viele überraschend zur erwähnten Hausdurchsuchung geführt haben. Zum Einsatzort hatte man nicht die üblichen Beamten beordert, sondern eine schwer bewaffnete Einheit, die normalerweise mit Straßenkriminalität befasst ist. Ihr Chef ist FPÖ-Funktionär und spricht auf Facebook mutmaßlich ausländerfeindlichen Postings zu.
Bei der Einordnung der Geschehnisse am fraglichen Abend Ende Februar verstricken sich Innenminister Kickl und Justizminister Moser zunehmend in Widersprüche. Täglich tauchen neue Fragen und Ungereimtheiten auf. Sie betreffen die Rolle von Kickl-Generalsekretär Peter Goldgruber, den Inhalt beschlagnahmter Datenträger und Herbert Kickls Umgang mit dem mittlerweile suspendierten BVT-Chef Peter Gridling. Ob extra FPÖ-Beamte geschickt wurden, um der Behörde Daten zu blauen Funktionären und deren Verbindungen ins rechtsextreme Milieu «abzunehmen», liegt immerhin nahe.
Staatsumbau.
In der öffentlichen Auseinandersetzung um die Causa BVT wird anschaulich, was seit Wochen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielt: Teile der Regierungsmannschaft überdribbeln sich in ihrem ungebremsten Willen zur Macht regelmäßig. Und der FPÖ kann der Staatsumbau nicht schnell genug gehen. Das lässt sich nicht nur an der Affäre um das BVT festmachen, sondern auch an der rasanten Neubesetzung zentraler Positionen in der Verwaltung und im staatsnahen Bereich von den ÖBB über die Uni-Räte bis hin zum Verfassungsgerichtshof. Zurückhaltung sieht anders aus.
Zu den vielen Patzern der jungen Regierung haben mehrere Faktoren beigetragen: Nach dem aufgeheizten Wahlkampf – und im Fall der FPÖ nach Jahren der Opposition und vielen brachialen Ankündigungen – ist die Fallhöhe entsprechend hoch. An kaum einem anderen Punkt lässt sich das so deutlich ablesen wie an den Diskussionen zur Rauchergesetzgebung. Die Freiheitlichen hatten sich vor der Wahl nachdrücklich für einen Ausbau der direkten Demokratie ausgesprochen. Trotz hunderttausender Protest-Unterschriften soll es jetzt aber justament zum Rauchverbot in der Gastronomie keine Volksabstimmung geben. Auch beim Überwachungspaket, in Sachen 12-Stunden-Tag und bei der ad acta gelegten Forderung nach einer CETA-Volksbefragung sind die Freiheitlichen umgekippt.
Das bringt Häme – vor allem unter der eigenen Anhänger_innenschaft in den sozialen Medien. Mehr noch als die freiheitlichen Umfaller in sozialen Fragen scheint die Fan-Gemeinde allerdings das vorgeblich staatstragende Gehabe des Vizekanzlers aufzuregen. Rechtzeitig zum Staatsakt in Gedenken an den «Anschluss» Österreichs an Hitler-Deutschland vor 80 Jahren hatte Heinz-Christian Strache Mitte März in seiner Funktion als Vizekanzler einen entsprechenden Hinweis auf Facebook gepostet. Mit 773.900 Fans verfügt er auf der Online-Plattform über eine beträchtliche Anhängerschaft. Ein großer Teil seiner Fans hat dieses Posting vorsichtig ausgedrückt nicht goutiert – und das nicht zum ersten Mal. Nachdem in der Burschenschaft des FPÖ-Niederösterreich-Politikers Udo Landbauer NS-Liedgut aufgetaucht war, sah sich Strache schon im Jänner zu einer halbherzigen Distanzierung gezwungen. Ein Shitstorm war die Folge.
In den Umfragen schlägt sich all das bislang kaum nieder. Die Demoskop_innen von Unique-research erhoben erst unlängst Werte von rund 31 Prozentpunkten für die ÖVP und 25 für die FPÖ. Damit liegen beide Parteien in etwa bei jenen Ergebnissen, die sie auch bei den letzten Nationalratswahlen erreichen konnten. Das nötigt selbst «Politikberater_innen» Respekt ab. Die «Message-Control» der Bundesregierung, also die Vernebelung ihrer Agenda für die Reichen funktioniert anscheinend einwandfrei. Für die ersten Zielscheiben ihrer Politik, für Arbeitslose, Migrant_innen, Frauen und Niedrigverdiener_innen steht dagegen schon jetzt fest: Jeder weitere Tag, den diese Regierung im Amt verbringt, ist einer zu viel.
Sebastian Kurz selbst hat diese Tatsache im ersten ausführlichen Interview seit Wochen zuletzt mit Nachdruck in Erinnerung gerufen. In der ZiB 2 vom 22. März verstieg er sich in Sachen Familienbonus zur Behauptung: «Es steigen alle besser aus.» Immerhin, nach den ersten 100 Tagen im Amt darf man Sebastian Kurz mittlerweile getrost der Lüge bezichtigen.