Jesus Christus am MexikoplatzDichter Innenteil

Als ich geboren wurde, wusste ich noch nicht, dass ich bin. Aber kaum, dass ich ein bissl laufen konnte, lernte ich, dass ich in einer Welt geboren war, die ich nicht ganz begreifen konnte. Die Backstube meines Vaters umhüllte mich mit behaglicher Wärme. Meine Mutter liebte mich – doch hinter einem wohlgeschützten Zaun oder Tor, um nicht zu sagen in einer Festung. Draußen vor dem Tor gab es etwas anderes. Pferdegetrappel, fürchterliche Geräusche. Panzergerassel, besoffenes Gekröle, hin und wieder auch Schüsse. Na ja, ich war ja erst jung geboren. Aber es war meine erste Begegnung mit globalem Rassismus.

Als kleinen, mutigen Bengel gelang es mir in einem unbeaufsichtigten Augenblick, durch das Tor auf die mir nicht bekannte Straße zu entkommen. No na, was sah ich da? Mir vollkommen unbekannte Menschen mit Gewehren, Stiefeln, Uniformen und roten Sternen. Die Sprache kam mir ein wenig komisch vor. Woher sollte ich wissen, dass ich nach einem Weltkrieg in der sogenannten Russenzone geboren war.

Anscheinend gibt es die Liebe auch in den widrigsten Zeiten. Einer dieser mir fremd erscheinenden Leute nahm mich liebevoll auf den starken Arm und brachte mich zur Kommandantur, die sich nur etwa hundert Meter weiter befand. Dort bekam ich Schokolade und Kekse im Überfluss. Doch das schönste waren die Pferde. Ich durfte sogar reiten, wurde auf’s Pferd gesetzt.

Einige Jahre später verließen mich meine damaligen Freunde, Russen. Es ging uns einigermaßen gut und ich wurde von Bekannten nach Wien zum Mexikoplatz mitgenommen. Die Erwachsenen erledigten einige Geschäfte. Ich war ihnen vorausgeeilt, kam an einem Buchstand vorbei und betrachtete – vermutlich – eine Bibel. Die Titelseite faszinierte mich: Jesus Christus, rundherum von starken Männern bewacht. Aber er sagte: „Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn sie sind die Zukunft. Für sie, aber auch für euch habe ich mein Reich bereitet.“

Der Mann hinter dem Standl – ich muss von dem Buch sehr fasziniert gewesen sein – gab mir ein paar Zuckerl. Ich suchte meine paar Groschen zusammen, die ich in der Tasche hatte. Einen mich einholenden Erwachsenen fragte ich in freudiger Erwartung: „Bitte, ich möchte dieses Buch, es kostet nur zwei Schilling“.

Und da erlebte ich etwas Fürchterliches: „Komm, komm, bei Scheiß Juden kaufen wir nicht!“ Ich begriff nicht gleich. Wie konnte das nur sein? Der Verkäufer war doch so freundlich zu mir. Die Zuckerl noch in meiner Tasche, ging ich enttäuscht mit meinen Leuten weiter.

Bei diesem Text handelt es sich um Günthers Monolog aus einer Filmszene. Die Verfilmung von Episoden aus der Biografie des AUGUSTIN-Verkäufers und -Autors Südtirolerplatz-Günther ist ein Projekt von Alice & Sony.

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