John Cage sammelt Altwaren im StuwerviertelDichter Innenteil

Dem Taxichauffeur möchte ich eigentlich verständlich machen, dass, obwohl er mich vor den in allen Farben blinkenden Eingängen abzusetzen hat, ich im dunklen Hauseingang verschwinden werde, eben da wohne. Nimmt er an, ich mit meinem Nicht-Wiener Deutsch er habe es sofort gehört, Schweiz, sagt er in seinem melodiösen Türkisch-Deutsch sei hier beschäftigt, nehme bloß den Haupteingang, um durch eine Hintertür ins Anschaffungslokal zu kommen? Soll er sich denken, was er will, hier sind eben allerhand Leute zu Hause. Und ich dazu. Max-Winter-Platz, 2. Bezirk, Wien.Die Wohnung hat sich aus der Konstellation meiner Studienzeit in den Achtzigern ergeben, ist seither geblieben und hat mit der gängigen Vorstellung von Wohnung nicht viel gemein. Zu ebener Erde liegt sie und ist nur durch ein eisernes Rollo vom begangenen Gehsteig blickunterbrochen.

Wenn ich im Bett liege, strecke ich meine Füße fast auf die Straße. Eine Glastür, meine halbmetrige, nur so genannte Veranda und der Rollladen schaffen den dürftigen Abstand. Manchmal amüsiert mich der Gedanke, dass mich nur dünnste Hüllen von einer Obdachlosenschläferin unterscheiden, und im Halbschlaf liegend kann ich mir ausmalen, wie Passanten reagieren würden, wüssten sie von der nahen Schläferin da. Meistens gehen die Leute vorbei, wollen von hier nach dort, und mein Rollo liegt am Durchgang. Aber dann sind die, die vor dem Hauseingang stehen und schwatzen und rauchen und lachen und schimpfen und dem abfahrenden Auto noch was nachzurufen haben und die Schlüssel suchen und sich noch nicht trennen wollen und herumstehen und zuschauen, was so geht rundum, und Kerne knacken und andere treffen und die Huren besuchen wollen oder nur so tun, als ob sie die Szene frequentierten, und wieder herumstehen und einen Blick werfen möchten, wenn eine mal ihre Türe öffnet. Die eine Türe liegt links neben meinem Rollo, Wand an Wand zu meinem Wohnung gewordenen Raum. Der Betrieb geht ruhig vonstatten, im Versteckten wäre zu viel gesagt, aber ihre knappe Legalität macht, dass alles geht, ohne Aufhebens.

Ich bin ihnen die lautere Nachbarin. Immerhin muss ich mich auf meine Konzerte vorbereiten. Ich weiß nicht, wie gut hörbar die Klavierklänge durch die Mauern kommen, aber sicher passt meine avantgardistische Musik nicht zu ihrem Gewerbe. Nie hat ein Wandklopfen oder eine Bemerkung im Hausflur unser jeweiliges Tun kommentiert. Sie haben ihre Musikanlagen und ich die meine.

Die kleine Aussparung auf hoher Höhe in meinem Rollladenwellblech ist zugleich mein einziges Fenster. Das Tageslicht kommt sparsam herein, gesiebt durch fünf Stäbe. Meine Notenlinien sind sie mir. Notenblatt ist der Hintergrund, und je nachdem, wie ich den Hals recke, ist das der davor stehende Baum oder ein Stückchen Himmel, durchkreuzt vom über die Straße gezogenen, eine Lampe tragenden Kabel. Ich kann nicht ans Fenster treten und schauen, was rundum geht, niemandem nachwinken, niemanden herbeischauen, sehe nichts, keine Autos, mitten in der Stadt kein Haus, keine Leute, wohne eben in Parklage.

Es wird gesagt, wer blind sei, höre besser. Ich höre durchfahrende, anhaltende und mit Hupzeichen ihre Ankunft markierende Fahrzeuge, schließende, immer nur schließende Autotüren, neuerdings den städtischen Bus der Linie 82A leicht überhörbar, so lärmreduziert verkehrt er. Früher hörte ich in Morgenstunden, vor meinem Tagesanbruch, die schweren Lastwagen der Wiener Molkerei, den ersten bloß, die später startenden konnten meine Schlafhülle nicht mehr durchstoßen. Ich höre die Kehrichtabfuhr. Die kommt auch zu früher Morgenstunde und lärmt, stemmt und scheppert, rollt die Müllcontainer wieder auf den Gehsteig, und zwar oft, denn mein Haus hat viele Abfallverursacher, und das Nachbarhaus ist nicht weit weg. Es dauert, bis die Erschütterungswelle verebbt, mit Nachbeben, wenn der Hausbesorger die Abfallcontainer zurück in den Innenhof schiebt. Ein neuerliches Knattern, man muss es kennen, um es gelassen ertragen zu können. Wie Geschosssalven in Schnellfeuerungsmodus tönt es, wenn Räder über diesen Boden gezogen werden. Ob Straßenpflastersteine die Idee gaben für ein solch höckriges Kacheldesign? Schon ein Rollköfferchen wird akustisch unerträglich hier in diesem Hauseingang! Leise huschen da nur die Ratten, lärmen dann im Hof bitte die Hoftüre immer zu schließen! , wo die Mülltonnen und sie zu Hause sind, die Rattenköder immer noch und wieder verschmähend. Die Blicke haben mich oft schon getäuscht, ein Schatten, ein Fleck oder doch eine flüchtende Ratte? Sicherheitshalber knalle ich die Türen zweimal und lasse beim Gehen meine Schuhabsätze hallend aufschlagen.

Eine Zeit lang haben Schwarze Einzug gehalten in meinen Nachbarräumen. Mädchenhafte Afrikanerinnen und dralle, in üppiger Fleischlichkeit, keine Spur von Schlankheitsabsicht demonstrierende Fruchtbarkeitsgöttinnen. Die Männer sind zu begreifen, die sich darin versenken und zugedeckt werden möchten von geschlechtlicher Weichheit. Auch die Betreuer der Frauen, Zuhälter, ihre Männer oder Freunde, dem Benehmen nach alles gleichzeitig, waren Schwarze und wie jene staunen machende Schönheiten, kräftige Körper, stolze Männer, die von hiesigen Freiern, oft genug mit Schäbigkeit geschlagenen zumal, nicht Notiz zu nehmen brauchten, sie allesamt hätten wegputzen können allein durch ihre Physis, mit der gleichen Leichtigkeit, wie die Frauen wohl die Spermaspuren wegwischten. Da standen dann vor meinem Rollo solche Männer, hatten, auch das gleichzeitig, endlos Zeit und geschäftige Eile, kamen und gingen und standen schon lange in der Tür eines ihrer Lokale, lachten viel und unterhielten sich klangvoll lauthals und zugleich am Handy in ihrer markanten U-lautigen Sprache. Und ich genoss ein Stückchen Afrika.

Entlastungsdruck der Männer

Plötzlich war ihre Zeit hier vorbei, mal standen ein Korbstuhl und einige Kleingegenstände neben einem Putzeimer auf dem Trottoir. Ich dachte an gestenreiches Reinigen, wie alles immer gestenreich gewesen war, es war aber ihr Auszug. So überschwänglich präsent waren sie, und so fern schien die Idee, ihr Leben könnte auch Problematisches bergen. Jetzt, wie vorher auch, habe ich oft den Gedanken, wie stark der Entlastungsdruck der Männer sein müsse, dermaßen unwählerisch zu werden, um da eine Viertelstunde zu vergeben.

Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich am Max-Winter-Platz zu Hause. Immer nur temporär, immer zu kurz, konstant zwar und immer wieder. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal in diese Quartierstraßen kam, vom Praterstern kommend und ausgestiegen aus der 21er-Tramlinie, die Molkereistraße zu suchen hatte und das entsprechende Straßenschild über Eggers Gusto Stüberl lesen konnte, das Stüberl betrat und dort wartete auf die erste Besichtigung, war ich über zweierlei sicher: Ich würde das Atelier in der Nähe von hier mietkaufen, sei es, wie es wolle, und zweitens würde dieses Gusto-Stüberl, so ideal am Weg, mein Stammcafé.

Ich war nie mehr dort zu Gast. Wenn ich heute ginge, ich würde mit Sicherheit alles so antreffen, als wäre ich vor aller Zeit dort sitzen geblieben. Nur die Sicht, würde ich wieder einen Fensterplatz wählen, wäre eine andere. Wo ist das Café Rotunde an der gegenüberliegenden Straßenseite, warum fährt keine 21er und hält hier, Kreuzung Perspektivstraße? Hier fuhr sie doch, der Beweis liegt noch, die Schienen, schau doch! Und schau auf den Jugendstilzaun um den Gastgarten! Frag nicht zu tief, wo das eigentliche Café Rotunde, das alteingesessene zumal, blieb!

Ich weiß, was hier war und was zugelassen wurde, dass es geschehen konnte. Ich weiß es und kann nicht den kleinsten Teil vom Was-war ahnen. Ich sehe die gleichen Rollladen, die mal Träger der Hetze waren; es gibt sie noch aus dieser Zeit, die Vorrichtungen zum Einstecken von Fahnen neben Hauseingängen. Ich schaue auf meinen Quartiergängen in die Gassen, lese von Hauseingängen, unter Schaufensterblenden, was hier passierte. Wüsste die greise Frau neben mir, an welchen Hausmauern die Schmierereien waren, wann ihre Nachbarn verschwanden? Hat sie war sie ? Wie kommt sie mit ihrem Kopf zurecht, wenn er Gesehenes hochspült?

Meine 25er-Zeit: kleine Änderungen, harmlose. Was ist noch und immer gleich? Lebt nach Helmut Qualtingers Ausspruch hier bitte nichts verändern? Das HiFi-Geschäft. Noch die ausgestellten Fernseher dünken mich seit je die gleichen, Staub statt Style, dann im Altwarenladen einige Häuser weiter gehört Staub zum Style. Wie oft habe ich hier und weit über seinen Tod im Jahr 1992 hinaus John Cage gesehen. Und immer noch geht er in seiner, eben dieser Cageschen, behutsamen Art in seinem Geschäft ein und aus, lächelt wie er, sanft und wie von innen her, tischt bei gutem Wetter einige seiner Schwerverkäuflichkeiten vor das Schaufenster, steht rum und hat immer zu tun mit seinem An und Verkauf. Vielleicht hat er ja das angeschriebene OIDWOARANLADN nicht dem Wiener Slang abgelauscht, sondern aus seinem Amerikanisch behelfsmäßig ins Wienerische transkribiert. Sehe ich diesen Altwarenladenbetreiber, so sehe ich John Cage, grüße ihn stumm und erzähle ihm ebenso stumm, dass ich im Konzert seine Stücke spielen werde, eben gerade die so lieben würde, und freue mich, dass er, wenn er sich schon aus New York ins Jenseits absetzte, in der Wiener Molkereistraße weiterlebt. Früher sammelte er Pilze in Upstate New York, heute Altwaren in Wien, suchte über I Ging und Sternkarten nach Kompositionsprinzipien. Letzthin stand ein Himmelsatlas bei ihm im Fenster. Was wäre, wenn er John Cage ist?

Was ich da mache, interessiert niemanden. Ich wohne hier mein temporäres Immerwien, wie meine Nachbarn auch. Wenn ich von hier aufbreche mit meinen Noten und den Programmzetteln, worauf geschrieben steht, was ich in der nächsten Stunde spielen werde, gekleidet schon für die Bühne, fühle ich mich dieser Quartierbevölkerung vielleicht am meisten verbunden. Von ihnen überträgt sich ein beruhigender Gleichmut, ich kann gewiss sein, dass während meiner Spielzeit hier alles weitergeht wie immer, und ich werde zurückkommen, und alles wird sein wie immer. Manchmal hat man nichts nötiger als das. In diesen Momenten bin ich dem Max-Winter-Platz zutiefst verbunden, niemand kümmerts, niemand kommt zum Konzert, ich bin frei. Jeder hat eben hier seine Sachen, diese haben ihr Lokal, jene die Hunde, dieser flickt den Automotor, jene hat einzukaufen, ich habe das Konzert.

Iris Gerber ist Pianistin und Konzeptkünstlerin mit zeitgenössisch-avantgardistischer Musik, Konzerte u. a. in der Alten Schmiede in der Schönlaterngasse. Sie lebt in Bern und Wien und ist als Schriftstellerin und Musikerin tätig.

Info:

Am 27. Juni wird die Autorin diesen Text lesen und mit einem Toypiano konzertieren. Veranstaltungsort ist die nahe dem Max-Winter-Platz gelegene Schnapsbar Lokativ in der Arnezhoferstraße 12 (demnächst Selma-Steinmetz-Straße). Eintritt: Spenden. ab-ort-musik

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