Jürgens Verhängnissetun & lassen

Nur das Schmerzensgeld ist kein «schnelles Geld»

Jürgen Halper hat für seine Zivilcourage schwer leiden müssen. Die Unachtsamkeit der Menschen in der Stadt, das Versagen von Sicherheitsbeamten, sobald es um die Sicherheit von armen Leuten geht, und der reduzierte Zugang der Outsider zum angeblich allgemeinen Recht zählen zu den Erlebnissen, die sein Bewusstsein prägten. Aber nach der Lektüre dieses Artikels wird klar sein, dass es sich um einen von der optimistischen Sorte handelt.«Ich wollte wissen, warum in einem der reichsten Länder der Welt, das über ein hoch entwickeltes Sozialsystem verfügt, junge Menschen auf der Straße betteln. In unregelmäßigen Abständen, verteilt über alle vier Jahreszeiten, haben wir dann mit den Mädchen und Burschen gedreht und ihre Leben bis Dezember 2003 verfolgt.»

So hat Sabine Derflinger die Frage nach dem Motiv ihrer Arbeit beantwortet. 2004 wurde ihr Film «Schnelles Geld» der Öffentlichkeit vorgestellt. Wieder einmal hatte ein wunderbares Stück Realismo Austriaco die Chance, sich vor Kinopublikum zu bewähren: Wien von unten, wie es atmet abseits des mit Sängerknaben, jungen Schispringerhelden, TV-Castingrundenverlierer_innen und Castingrundengewinner_innen etc. bevölkerten Scheinwerferkegels! Jürgen Halper, der heute 32-jährige Augustinverkäufer im Rollstuhl, ist einer der Protagonist_innen Derflingers. «Was macht das mit einem, der aus dem Nichts kommt und plötzlich sich selber aus dem Trailer (der auf Anhieb Aufmerksamkeit gefunden hat) entgegenspringt?», will ich Jürgen fragen, aber er kommt schon von selber mit der Antwort daher: Derflingers Dokumentarfilm habe ihn aus der Anonymität des Elends herausgehoben; die Sozialbehörden fanden, ein «Filmstar» habe Anspruch auf eine Wohnung. Eigentlich eine nicht ganz lautere Privilegierung, die einem jedoch absolut nicht vorzuwerfen ist, der wie Jürgen zur Zeit der Dreharbeiten (damals war er 22) schon vier Jahre auf der Straße lebte, was mit Rollstuhl noch schwieriger ist als ohne. Wenn ihm dieser Rolly, auf dem er seit dem Alter von 14 wegen eines Unfalls mit einem über ihn wegrollenden Verschubswaggon fährt, wenigstens ein kleines Privileg in Sachen Arbeitsvermittlung bescheren würde! Aber nein, die Unternehmer können sich bekanntlich ja billigst von der Pflicht, Behinderte einzustellen, freikaufen.

Als die Dreharbeiten begannen, hatte Jürgen Halper noch keine Gemeindewohnung im neunten Bezirk, war er noch kein Augustinverkäufer und noch kein Bezieher einer Invaliditätspension. Und er ahnte noch nichts von den beiden existenziellen Erlebnissen, die (Geständnis der Redaktion!) der Anlass unseres Gesprächs waren.

Das erste: «Es geschah vor drei Jahren. Mein Hund wurde von einem anderen angefallen. Von einem Brutalo, frei von Leine und Beißkorb. Ich schrie um Hilfe und versuchte, meinen Hund zu verteidigen. Ein Passant verabreichte dem Angreifer eine Ladung aus dem Pfefferspray. Doch das aggressive Tier war nicht zu bändigen. Zwei Polizisten, die vorbeikamen, trauten sich nicht einzuschreiten. Sie telefonierten die Hundestaffel an und schauten zu, als der wütende Hund zweimal kräftig zubiss. Erst als er mich zum dritten Mal ansprang, erschossen sie ihn. Der Besitzer des Hundes wurde zu 5000 Euro Schmerzensgeld verurteilt, von dem ich noch keinen Cent sah. Mein Hund hat das überlebt.»

Das zweite: «Es geschah vor einem Jahr. Ich befand mich auf dem Nachhauseweg nach einer Techno-Party. In der Bim attackierte ein Mann seine Freundin. Zunächst verbal, aber nach dem Aussteigen wurde er handgreiflich. Ich war ebenfalls ausgestiegen und wollte ihn dazu bringen, die Frau in Ruhe zu lassen. Er riss mich vom Rollstuhl herunter. Es ging alles so schnell, dass ich nicht merkte, dass er mich mit einem Messer aufgeschlitzt hatte. Erst als ich versuchte, aufzustehen, sah ich, dass meine inneren Organe im Freien lagen. Ein Mädchen verständigte die Rettung. Ich legte mich auf den Boden, drückte mein T-Shirt fest auf meinen Bauch, verlor schließlich das Bewusstsein. Zuvor sah ich noch die vielen Menschen am Bahnsteig. Menschen, die nicht reagierten auf das, was sie als Augenzeugen erlebten. Ein Wahnsinn, diese Teilnahmslosigkeit.»

Die Galle, die Milz, ein Teil der Bauchspeicheldrüse fehlen seither im Bauch Jürgen Halpers. Lebenslang muss er Medikamente nehmen. Der Täter sitzt eine Haftstrafe von sieben Jahren ab. Auch in diesem Fall sah Jürgen noch keinen Cent vom 10.000 Euro-Schmerzensgeld, das dem Verurteilten auferlegt worden war. Der «Weiße Ring», die Opferschutzorganisation, habe in seinem Fall auf ganzer Linie versagt, meint Jürgen. «Ich ersuchte sie, mir die direkte Begegnung mit dem Täter im Gerichtssaal zu ersparen», erzählt er. «Natürlich sorgen wir dafür, versprach der Herr vom Weißen Ring. Er sorgte nicht dafür. Niemand verhinderte die Konfrontation.»

Das Weltbild hinter der Zivilcourage

Die beiden Erlebnisse haben den 32-Jährigen nicht gebrochen. Hinter der Zivilcourage, die er gegenüber dem Gewalttäter gezeigt hatte, steht weder eine momentane Laune, einmal Gutes zu tun, noch das «Frauen-muss-man-schützen»-Männlichkeitsgehabe, sondern eine Grundeinstellung der Solidarität, wie sie für das politische Spektrum der Autonomen- und Punk-Bewegung selbstverständlich war/ist. Der Punk-Geist lebt in Jürgen, auch wenn er das Punk-Outfit, das in Derflingers empathischem Filmkunstwerk noch zu bewundern ist, abgelegt hat.

Die Grünen, die er einmal gewählt hat, kommen in seiner Sympathieskala nicht mehr so gut weg, seitdem sie sich brüsten, die Verbilligung der Öffi-Jahreskarten erkämpft zu haben, aber gerne verschweigen, dass die grün-rote Koalition die Schwarzfahrerstrafen in die Höhe schnellen ließ. Was zur Folge haben wird, dass die «Polizeigefängnisse» genannten Armenherbergen bald keinen Platz mehr haben werden, wo die Nichtzahler_innen noch arrestiert werden könnten.

Jürgens unmittelbares politisches Engagement gilt dem Verein gegen Tierfabriken. Derzeit ist er dabei, einen eigenen Verein aufzubauen: zum Betreiben einer veganen «Volxküche». Die ihm liebsten Nutzer_innen seiner rollenden, operativen Küche werden die zukünftigen Besetzer_innen eines österreichischen Tahrir-Platzes sein. Und sollte die Derflinger dann auch diese Revo dokumentieren (wer sonst?), könnte sie den Ex-Obdachlosen vom «Schnellen Geld» in seiner neuen Rolle zeigen: hinter dem großen dampfenden Kessel des Kostnix-Caterings.