Jugendarbeit 4.0tun & lassen

Jugendarbeiter Fabian Reicher (li.) und Jihadismus-Aussteiger Ahmad Mitaev (re.) machen schon lange gemeinsame Sache. Ihr Erfolgskonzept: Ambiguitätstoleranz (Foto: © Nicole Szolga)

Polizist Uwe und Ex-IS-Anhänger Ahmad sind «Cop und Che», die Protagonisten des neuen Buchs von Edith Meinhart. Darin geht es auch um Soziale Arbeit und darum, wie bedingungslose Jugendarbeit auf den Weg aus dem religiösen Extremismus verhilft.

 

«Sie werden alles über mein ­Leben wissen», so beginnt der 24-jährige Ahmad ­Mitaev das Interview und folgert, dass er mit der Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte wohl zur Angriffsfläche von extremistischen Kräften wird. Als Aussteiger aus der jihadistischen Szene in Wien mit Verbindung zur Terrorgruppe IS weiß er, welches ­Risiko er damit eingeht. Um zu verhindern, dass andere Jugendliche ein ähnliches Schicksal ereilt, ist Ahmad bereit, «diesen Kampf zu führen», wie er es nennt, und seine Erfahrungen zu ­teilen. Mehr noch, es geht auch um Reprä­sentation, darum, Geschichten zu erzählen, die nicht so gerne gehört werden in einem Land, dessen Politik ­immer wieder die Migrationsgesellschaft zum Problem erklärt.

Von Video zu Buch

Das Buch selbst liest sich so spannend wie ein Krimi, später wie ein Märchen mit Realitätsbezug. Die Journalistin Edith Meinhart erzählt von engagierten Jugendsozialarbeiter:innen, von dem Polizisten Uwe, der trotz eigener Vorurteile den Dialog mit Ahmad sucht, welcher wiederum seine Lebensgeschichte erzählt, die ungewöhnlich und ergreifend ist.
Der in Tschetschenien ­geborene Wiener kann trotz seiner 24 ­Jahre bereits auf eine rasante Vergangenheit zurückblicken: Straßengangster, Jugendvollzugsanstalt, IS-Anhänger. Ahmad befindet sich bereits auf dem Weg nach Syrien, als es seiner Familie gelingt, ihn noch rechtzeitig ab- und aufzufangen. Heute ist er ein Vorbild.
Aber warum stößt dieses Buch bereits vor seiner Veröffentlichung auf so viel Resonanz? Vielleicht, weil Cop und Che als TikTok-Serie mit bis dato 20 Millionen Views bereits auf sich aufmerksam gemacht hat. In dem Format beantworten Ahmad und der Polizeibeamte Uwe Fragen, die Jugendlichen unter den Nägeln brennen. Die Idee zu dem Buch entstand jedoch in einem gänzlich anderen Kontext.
Nach dem Anschlag am Schwedenplatz 2020 begibt sich Edith ­Meinhart auf die Suche nach Expert:innen für ein Interview über reli­giösen Extremismus in Wien. Jugendarbeiter Fabian Reicher von der Beratungsstelle Extremismus empfiehlt ihr Ahmad, der selbst Erfahrungen in der isla­mistischen Szene gesammelt hat. Aus den folgenden Gesprächen wird schließlich ein Buchprojekt. Ahmad meint, dass er durch das Erzählen angefangen habe zu reflektieren. «Was soll ich erzählen? Was ist wichtig? Oft hab’ ich mir gedacht: Wow– ich hab viel Scheiße gebaut!» ­Fabian erwies sich als wichtige Stütze. «Du kannst noch so einen Scheiß bauen, ich muss auch nicht mit allem einverstanden sein, aber es gibt keinen Beziehungsabbruch, egal was passiert.» Diese Haltung schätzt Ahmad im Nachhinein am meisten an Fabian. Als die ­beiden sich vor rund zehn Jahren in der Brigittenau kennenlernen, ist Ahmad noch ein Teenager. Mittlerweile sind beide erwachsen und können trotz verschiedener Lebensentwürfe, oder gerade deswegen, auf eine gemeinsame Geschichte des Vertrauens und der Zusammenarbeit zurückblicken. Das Erfolgskonzept nennt sich Ambigui­tätstoleranz – damit ist gemeint, dass beide Seiten Unterschiede und Widersprüche aushalten und trotz unterschiedlicher Sichtweisen aufeinander zugehen.

Von der Straße ins Digitale

Sowohl Ahmad als auch Fabian sind schon ­lange mit unterschiedlichen Formaten auf ­Social Media aktiv, wie beispielsweise mit dem Kanal Die Wütenden auf Instagram. Dass ein Tschetschene (Che) und ein Polizist (Cop) TikTok-Stars werden konnten, ist zur Gänze der Idee von Ahmad geschuldet. Dass die Idee trotz Gegenwind von Uwes Vorgesetzten, die skeptisch waren, verwirklicht werden konnte, dafür hat sich der Polizist persönlich ins Zeug gelegt. «Das ­eigentliche Erfolgsgeheimnis von Cop und Che ist das Wagnis, das ­jeder der Beteiligten dafür ­eingeht», so die Autorin Edith ­Meinhart. Auch wenn Ahmad der Institution Polizei wenig abgewinnen kann, versteht er sich mittlerweile mit dem Grätzel-Beamten Uwe. Damit wird Ahmad zum Sprachrohr, Role Model, Reibebaum und Brückenbauer für eine ­Generation superdiverser Jugendlicher in Wien.
Schließlich geht es darum, Jugendliche zu erreichen und ihnen Alternativen zu den extremistischen Plattformen anzubieten. «Wir sind auch hart angegriffen worden», schildert Jugendarbeiter Fabian, «von rechtsextremer, aber auch von islamistischer Seite – weil sie es nicht packen, dass sich ein Tsche­tschene und ein österreichischer Polizist so gut verstehen.» Ihre große Erzählung ist ja, dass es kein friedliches Zusammenleben zwischen Muslim:innen und Nichtmuslim:innen geben kann. Dass das einfach nicht stimmt, zeigt die Geschichte von Ahmad und Uwe, und das kommt richtig gut an. «Mitgeliefert wird dabei auch eine Wertehaltung, die sich klar gegen Extremismus und für Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit ausspricht und attraktive Angebote des Tuns setzt», so Fabian. Auf der Ebene der Sozialen Arbeit bedeutet das, attraktiven Content zu generieren, «cool zu sein und Style zu haben». Nicht nur auf TikTok, sondern auch im Kino.
Das Gelingen dieses Ansatzes zeigt der Kurzfilm Im Schatten von Wien, der im Rahmen des Projekts «­Demokratie, was geht?» umgesetzt wurde und bei dem die beiden eine Gruppe von Jugend­lichen betreuen. Nicht als selbstverständlich gilt es in der Jugendarbeit, junge Menschen über ein Jahr an ein Projekt zu binden. Sie zeigten ihre geheimen Orte, es ­wurde gegrillt, gebetet und vor allem geredet. Fabian erzählt, wie das gemeinsame Ziel, einen guten Film zu machen, half, die unter­schiedlichen Einstellungen zu überbrücken. Die Teilnehmenden lernten im Rahmen der Filmumsetzung, mit vielen Personen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. «Alle Entscheidungen wurden dabei partizipativ getroffen, das war anstrengend, aber so funktioniert halt Demokratie.» Die Werte, die dabei mitgenommen wurden, geben sie als Peers wieder an andere weiter. Als die Jugendlichen anlässlich der Filmpräsentation im Gartenbaukino auf der Bühne zu ihren Wünschen und Erwartungen an die Gesellschaft befragt werden, antworten sie, diese seien Akzeptanz und Respekt, ganz egal woher man komme, was man glaube und als was man sich identifiziere. «Wir haben ihnen nicht gesagt, dass sie das sagen sollen, das ist einfach aus ihnen rausgekommen», berichtet Ahmad, nicht ganz ohne Stolz.

Lesen, lesen, lesen

Ein wichtiger Punkt, den Ahmad noch einbringt, ist das Interesse an der Lebenswelt des Gegenübers. «Das verstehen viele nicht. Viele Erwachsene, die mit muslimischen Jugendlichen arbeiten, denken, sie selbst müssen über den Islam nichts lernen und es reicht, was sie über die herkömmlichen ­Medien ­erfahren.» Viel besser sei es, sich die Informationen dort zu besorgen, wo sie ursprünglich herkommen. «Das sag ich auch immer den Jugendlichen: Holt euch die scheiß Information aus den Büchern, und nicht von irgendwelchen TikTok-Predigern! Wir wollen die Jugendlichen wieder anstiften zu lesen!» In dieser Hinsicht ist das Buch Cop und Che eine wärmste Leseempfehlung. Edith Meinhart hat ein gut recherchiertes und rasant geschriebenes Buch vorgelegt, mit der Quintessenz, dass man trotz gegenteiliger Meinungen und Positionen miteinander reden kann – und sollte! Was sich Ahmad und Fabian noch wünschen: «dass das Buch viel und vor allem in den Schulen gelesen wird!»

Edith Meinhart: Cop und Che. Wie ein Tschetschene und ein Polizist zu TikTok-Stars wurden
Mandelbaum 2024
200 Seiten, 20 Euro