Kälte für soziale Wärmevorstadt

Boris Blizz prüft die Badewassertemperatur (Foto: © Michael Mayer)

In Wien gehen Partygäste baden. Was unspektakulär klingt, findet bei eisigen Wassertemperaturen und für den guten Zweck statt.

1,4 Grad Celsius hat das Wasser in den zwei großen Tiefkühltruhen, die auf dem Areal der Wiener Krieau im Gras stehen. Wer dort prüfend einen Finger hineinsteckt, zieht ihn schnell und mit großen Augen wieder heraus. Riesige Eisbrocken treiben im Wasser. Bevor sie bald von den Körpern einiger mutiger Partygäste verdrängt werden, gibt’s noch eine Atemübung mit dem Coach Marcus Bernhardt: «Die Kälte kann ein ganz wunderbarer Lehrer sein. Im Eisbad denkt sich unser Körper ‹Was ist das für ein Wahnsinn?›. Unsere Aufgabe ist es, in diesem Wahnsinn zur Ruhe zu kommen. Das können wir auch auf unser Leben übertragen.
So sieht es auch Boris Blizz. Der IT-Techniker, der seit Jahren auch für den Augustin seine IT-Expertise ­bereitstellt, steht hinter dem Event, das an ­einem warmen Frühsommerabend etwas abseits der Trabrennbahn stattfindet. «Kälte für soziale Wärme» betitelt er seine 50er-Feier. Geladen sind ­Familie und Freund:innen, einige wissen noch nicht, was ihnen bevorsteht. Denn ­Geschenke will Blizz keine. Die könne er sich schon selbst kaufen, sagt er. Da sei ihm Geben wichtiger. Ein Schicksalsschlag hat Blizz in den vergangenen Jahren viel Kraft und Energie gekostet. Er war am Ende, wusste weder ein noch aus. Seine Familie fing ihn auf, das soziale Netz hat gehalten.

Halt im Eis

«Aber das ist nicht für alle der Fall», sagt Blizz. «Ich war privilegiert, ich konnte mich an Menschen in meinem Umfeld wenden, die mir weiterhelfen. Deshalb will ich auch etwas zurückgeben.» Konkret spendet er an den Krisentopf des Augustin, der Augustin-Verkäufer:innen in Notsituationen helfen soll. Um die Spenden in die Höhe zu treiben, motiviert Blizz seine Gäste. Denn: Die Challenge des Abends ist nichts für Kälteempfindliche. Für jede Minute im Eisbad wandern 50 Euro in den Spendentopf.
Die Erfahrung des Eisschwimmens hat Boris Blizz geholfen, wieder Halt im ­Leben zu finden. Die Kälte, die sprichwörtlich durch Mark und Bein geht, macht den Kopf klar und lässt das Gehirn das Glückshormon Dopamin ausschütten. Das führt dazu, dass Zaungäste oft kopfschüttelnd an diversen Seeufern stehen, während Eisbadende quietschvergnügt bei winterlichen Temperaturen im Wasser ihre Runden ziehen. Aber: «Manchmal applaudieren Spaziergänger auch und suchen das informative Gespräch mit mir», sagt Blizz.
Die Kälte wirkt auf die Lungenfunktion und die Fettverbrennung. Blizz hat ganze acht Kilogramm abgenommen, beim ärztlichen Leistungstest wurde ihm angedichtet, er sei Triathlet. Der Gewichtsverlust ist auf die Aktivierung der braunen Fettzellen zurückzuführen, die bei dem Versuch, den Körper während starker Kältereize warm zu halten, Energie verbrennen.
Aber das Wichtigste: Die Kälte helfe ihm, Stress abzubauen und nach einer langen Arbeitswoche auch mal runterzukommen, so Blizz. «Ich merke, dass ich grade gereizt bin – ich war diese Woche noch kein einziges Mal eisbaden.»

Atmen im Kollektiv

Jetzt aber Schluss mit der Plauderei. Der Coach lässt die Partygäste auf Yogamatten Platz nehmen. Zuerst soll das richtige Atmen nach der Wim-Hof-Methode geübt werden (Hof ist ein niederländischer Extremsportler, der das Eisbaden zum Kult gemacht hat). Der Atem füllt Bauch und Brust, geistig ziehen die Kälte-Ninjas in spe die Luft bis in den Kopf und atmen laut im Kollektiv aus. Ein bisschen klingt es, als hätten alle gleichzeitig ihren Steuerbescheid bekommen – und müssten nichts nachzahlen. Oder als wäre die EM-Auslosung für Österreich doch ein wenig einfacher ausgefallen. Jetzt geht es an weitere Techniken des Atmens und Luft-Anhaltens. Von den Besten in der Gruppe hört man über einen beängstigend langen Zeitraum keinen Mucks, bis schließlich auch die Letzten nach Luft japsen. Blizz hat über die Jahre gelernt, seinen Atem für vier Minuten anzuhalten. Das löst schon beim Zuhören Schwindel und Schnappatmung aus.
Die Gruppe ist bereit. Sagt zumindest der Coach. Boris Blizz führt die Freiwilligen zu den Kühltruhen. Die Ersten machen sich bereit, klopfen sich auf die Oberschenkel, schließen die Augen. Die Umstehenden zählen sie ein: «Drei … zwei … eins …» Beherzt platschen die Ersten ins Wasser. Man stoppt die Zeit und beobachtet geballte Fäuste unter klappernden Zähnen in verzerrten Mündern. Entspannt sieht anders aus.

Kalte Minuten

Eine Person nach der anderen springt wieder aus der Kühltruhe. Rein mit den nächsten. Der Satz «Ist man erst einmal drin, ist es nur mehr halb so schlimm» klingt blöd – bewahrheitet sich aber tatsächlich nach etwa 30 Sekunden oder etwas länger. Je nachdem, wie ­lange man braucht, um den Atem wieder zu regulieren. Das muss wohl die Ruhe im Wahnsinn sein, von dem der Kälte-Coach zuvor gesprochen hat. Auch die ­Autorin dieser Zeilen macht mit – hilft’s nix, schadet’s (hoffentlich) auch nicht.
Am Ende ruft Blizz das ­Gesamtergebnis aus: 38 Minuten haben seine Partygäste insgesamt im Eisbad verbracht. Ergibt 1.900 Euro für den Krisentopf des Augustin. Im Bewusstsein, dass damit Menschen finan­ziell unter die Arme gegriffen wird, die sich in Österreich auf kein solides so­ziales Netz verlassen können, wird ­einem selbst wieder ein bisschen wärmer ums Herz.

Translate »