Kannibal_innen sind immer die anderentun & lassen

Aus der Sammlung des universitären Projekts «Teilnehmende Medienbeobachtung»

Menschenfresser_innen sind immer irgendwo anders. Menschenfresser-innen, das sind immer die anderen. Sie sind gut für die Auflage. Menschenfresser_innen lassen uns schaudern. Sie rühren an unseren schlimmsten Ängsten. Sie sind fast zu schaurig, um wahr zu sein. Doch jede_r Kannibal_in hat auch seine gute Seite: Er_sie erhöht die Auflage, steigert die Quote und verkauft. Sex sells. Kannibal_innen ebenso. Gibt es keine Kannibal_innen, werden sie eben gemacht. Besonders der Boulevard-Journalismus liebt seine Kannibal_innen.Der deutsche Weltumsegler Stefan R. wurde dadurch gleich zweimal zum Opfer gemacht. Er wurde im Oktober auf Nuku Hiva, einem Teil der Marquesas-Inseln in Französisch-Polynesien, ermordet. Hinter diesem Kriminalfall steckt noch ein zweiter: Nach seiner Ermordung stürzten sich nationale und internationale Medien auf den Ermordeten und weideten ihn noch einmal aus. Sie stellten R.s Ermordung als grausamen kannibalistischen Akt und perversen Mord dar. Stefan R, seine Familie und die Einwohner von Nuku Hiva sind damit auch zu Opfern geworden.

Wie genau Stefan R. ermordet wurde, ist bisher nicht bekannt. Fest steht: Er ging mit dem Hauptverdächtigen Henri H. auf Ziegenjagd. Er wurde dabei umgebracht. Seine Leiche wurde verbrannt. Gemeinsam mit einem oder mehreren Tierkadavern fand man seine Überreste in den Resten eines Feuers. Der (mutmaßliche) Täter Henri H. versuchte wohl die Leiche zu beseitigen. Laut der Aussage von Heike D., der Lebensgefährtin des Opfers, wollte der Täter sie anschließend in den Wald locken und vergewaltigen. H. floh in die Wälder. Die Polizei sucht ihn. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass der Täter Stefan R. in irgendeiner Form gegessen hat. Noch nicht mal für kleine Naschereien von der Leiche des Ermordeten gibt es Indizien. Macht nichts. Kann man erfinden.

Um aus einer verbrannten Leiche ein perfekte kannibalistische Mahlzeit zu kochen, fehlt nur eine wichtige Zutat: Die Exotik. Das bietet die ferne Insel Nuku Hiva, die an alte «Südsee»-Klischees erinnert. Bewohnt von gerade mal halbwegs zivilisierten «Wilden» liegt der Verdacht auf Kannibalismus doch … irgendwie nahe. Ab diesem Moment wurde Stefan R. zum zweiten Mal zum Opfer. Von den Insulanern nicht zu reden.

Zahlreiche Medien aus aller Welt stürzten sich auf R.s Schicksal und kannibalisierten seinen Tod. Vor allem der deutsche und britische Boulevard, allen voran die «Bild»-Zeitung und «bild.de» stürzten sich auf den Fall. Aber auch der Korrespondent des «Tagesspiegels» und der «Potdsamer Neuesten Nachrichten», Alexander Hofmann, fabulierte munter darauf los: «Behörden bestätigen Kannibalismus». Muss ja nicht stimmen. Selbst «Spiegel Online» entzieht sich der klischeesatten Berichterstattung anfangs kaum. «Österreich» und «Heute» lassen sich das natürlich auch nicht entgehen: «Deutscher in Südsee von Kannibalen ermordet?» titeln sie. Kannibalen verkaufen sich eben überall.

(zwiti) Experten, die keine blasse Ahnung haben

Doch «Bild» geht sogar noch weiter. Nuku Hiva wird zur «Kannibalen-» und zur «Todes-Insel» gemacht. Lebensgefahr für andere Urlauber? Sicher doch. Gleichzeitig bleibt «Bild» einem anderen Klischee treu: Nuku Hiva bleibt, auch wenn der Urlaub dort letale Folgen haben kann, immer noch ein «Südsee-Paradies». Wenn auch ein tödliches.

Doch «Bild» arbeitet an seiner Glaubwürdigkeit: Henri H., der vermutliche Täter, war tätowiert. Schlimm? Das alleine noch nicht. «Bild» interviewt dazu auch einen selbsternannten Tattoo-Experten, den Tätowierer Jörg «Monte» Klein. Der identifiziert das Tattoo als Bild eines Kaioi-Kriegers. Und die, so «Bild», haben ihre Gegner gefressen. Dazu werden zwei «Kannibalismus-Experten» interviewt. Beide streiten gegenüber «bildblog.de» später alle Zitate vehement ab.

Macht nichts. Es gibt noch mehr Experten und Expertinnen. Die meisten ungenannt. Ohne Namen können sie nichts abstreiten. Die namenlosen «Experten vermuten, dass einige nur deshalb sterben mussten, weil die Kannibalen Lust auf Menschenfleisch hatten». Ist Henri H. «() dem Todes-Kult verfallen, ein perverser Mörder, was steckt hinter dem Verbrechen?», fragt sich «Bild».

Ein anderer «Bild»-Experte ist Herman Melville, der Autor von «Moby Dick». Herman Melville kann auch nichts mehr abstreiten. Er ist schon vor längerer Zeit verstorben. Melville und andere Abenteuer-Autor_innen formten das Bild der «Südsee-Kannibalen» mit, das «Bild» hier aufgreift. Melville immerhin bereiste Nuku Hiva. Nach seiner Reise schrieb er seinen Roman «Typee» darüber. Er schildert darin einen hölzernen Topf auf dem Dorfplatz. Darin sieht er die Reste eines menschlichen Skelettes. Ob das historischen Tatsachen entspricht, lässt sich nicht beweisen. Es gibt anthropologische Berichte darüber. Wahr oder falsch bleibt hier ungewiss.

Es gibt zahlreiche Quellen und Forschungen, die belegen, dass es wohl in vielen Teilen der Welt Kannibalismus gab. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Es gibt etwa in Colorado Myoglobin-Funde in menschlichen Exkremten aus dem 12. Jahrhundert. Myoglobin kommt nur in menschlichem Muskelgewebe vor. Meistens ging es wohl vor allem darum, sich die Lebenskraft oder Energie («Mana») von Ahnen oder Feinden einzuverleiben. Wie oft das vorkam oder ob es überhaupt nur Einzelfälle waren, ist unbekannt.

Reiseberichte, frühe anthropologische Berichte oder Informationen von Missionaren und Kolonialbeamten vertieften diese Bilder. Gerade aus den pazifischen Inseln sind sie überliefert. Diese Berichte hatten jedoch oft ganz bestimmte Zwecke: Sie sollten die Christianisierung und die «Zivilisierung» der «Wilden» rechtfertigen. Und damit die Expansion der christlichen Kirchen und der Kolonialmächte. Kannibalismus oder auch nur die Berichte darüber waren nützlich. Sie schufen Macht.

Die Boulevard-Medien und vor allem «Bild» reihen sich darin ein. Klischees und Rassismus gehen Hand in Hand. Sie haben einen einzigen Zweck: Die Auflage zu steigern. Stefan R., seine Famile und erst recht die Einwohner der Marquesas-Inseln werden diesem kannibalistischen Zweck geopfert. Sie spielen keine Rolle.

Der «Südsee-Staatsanwalt», wie ihn «Bild» nennt, José Thorel, Staatsanwalt von Nuku Hiva, «kann den schlimmen Verdacht nicht aus der Welt räumen». Denn: Die verbrannte Leiche stammt von Stefan R. Die Zähne stammen von ihm. Er ist tot und verbrannt. Das reicht als Beweis für Kannibalismus. Das ist genug. Gegessen wurde er noch immer nicht.

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