Oskar Negt im Augustin-Gespräch: Warum uns die Gesellschaft depressiv macht
Wie konnte es so weit kommen, dass sich in den letzten 18 Monaten 24 Mitarbeiter der Telecom France selbst umbrachten? Wieso beziehen so viele Menschen ihre Arbeitssituation so stark auf ihre Persönlichkeit? Wieso haben sie bei ihrer eigenen Kündigung Schuldgefühle?
Diese Form des Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass die Überforderung, der die Menschen in der Arbeitswelt unterliegen, nach innen geht. Die Leistungsansprüche, die das System an jeden Einzelnen stellt, werden auch zu einem psychologischen Problem. Der äußerliche Druck erhöht sich dadurch, dass er zum Selbstanspruch wird. Dieses nach Innengehen der Leistungsanforderung führt dazu, dass die depressive Struktur in unserer Gesellschaft zunimmt. Depression ist, nach klassischen analytischen Gesichtspunkten, die Spannung zwischen dem selbst gestellten Anforderungsprofil und der Nichtleistung. Diese Spannung nimmt auf allen Ebenen zu, insofern ist die Schluss-Mentalität im Steigen. Wenn sich ein Konzernchef wie Merkle vor die Bahn wirft, kommentiert er eine völlige Aussichtslosigkeit: Er nahm sich vor, den Konzern seinen Kindern zu übergeben. Er verspekulierte sich, und die einzige Folge ist für ihn, dass er absurderweise anständig aus dem Leben scheiden muss. Die Ausweglosigkeit der Individuen vergrößert sich, die aber Hilfe suchen. Meine Frau hat als Therapeutin mit mittleren Managern zu tun, die nicht aus materiellen Gründen sondern aus subjektiven nicht ausscheiden können denn das wäre praktisch eine Selbstvernichtung der eigenen Lebensansprüche. Dieser Form des veränderten Kapitalismus ist es gelungen, sich in die Psychologie, ja geradezu in die Anthropologie der Subjekte zu schleichen. Das macht es auch so schwer, den Parolen zu folgen, die von traditioneller Arbeiterbewegung her kommen. Die Führungsriegen der Arbeiterbewegung sind im Grunde bemüht, traditionelle Formen der Solidarität wiederherzustellen, das ist notwendig, aber gerade der antipsychologische Effekt ist stark. Wenn die Freud hören, machen sie die Ohren zu. Die glauben, es geht nur um einen Interessenskonflikt. Es ist aber viel komplizierter. Es entstanden viele Probleme, die mit der veränderten Subjektausstattung zu tun haben. Ich betonte in der Schrift Wozu noch Gewerkschaften? immer wieder, die Gewerkschaften müssten auch viel stärker berücksichtigen, was in den Subjekten vorgeht, und diese oberflächliche Interessenskonstellation überwinden.
Ein österreichischer Skandal betraf die Eisenbahner, die ihren Chefs Krankenstands-Gründe und Diagnosen mitteilen mussten. Betroffen war der Verschub, in dem die Rangierer in der Nacht und im Freien arbeiten. Die Arbeiter sollen alles offen legen, bis in den Körper hinein. Sie sprechen in ihrem Buch Arbeit und menschliche Würde von der Entkleidung, wie Karl Marx dieses Phänomen nannte. Wie schaut es in Deutschland mit diesen selbstverständlichen Entkleidungsmechanismen aus?
Es gibt in der Tat die Tendenz, das Bild vom Menschsein allein auf den Träger von Arbeitskraft zu reduzieren. Dieses ideologische Bild besagt, dass jemand keinen Besitz, aber ein gewaltiges Potenzial, nämlich seine Arbeitskraft hat. Daher könnte er genauso unternehmerisch tätig sein wie ein Unternehmer mit seinem Kapital. Das ist die offizielle Ideologie. Das Unternehmertum ist die eigentliche menschliche Tätigkeit, heißt es bei Schumpeter. Diese Ausprägung des Kapitalismus verdient daran, alle Möglichkeiten wahrzunehmen, in denen der Mensch sein Äußerstes an Leistung zeigen muss. Der Kapitalist meint gewissermaßen, er zahle diese Arbeitskraft und dann dürfe sich dieses Arbeitsvermögen nicht aus diesem Zusammenhang herausziehen. Es spielt dabei eine große Rolle, dass die pessimistische anthropologische Auffassung vorherrscht, der Mensch sei im Grunde faul, er wolle nicht arbeiten. Dabei wissen wir doch, dass Erwerbsarbeit einigermaßen zur Identitätsbildung der Menschen beiträgt. Das war schon in der Marienthal-Studie von Marie Jahoda sichtbar, dass die Trennung von der Arbeit Selbstwertgefühle zerstört. Die Deutschen sind z. B. diejenigen in Europa, die am häufigsten zum Arzt gehen. Trotzdem ist der klinische Krankenstand auf dem niedrigsten Niveau der Nachkriegsgeschichte. Hingegen verzehnfachte sich der sozialpsychiatrische Krankenstand in dieser Zeit! Das heißt, die Menschen drücken ihre Überforderung nach innen. Sie lassen sich zwar vom Arzt beraten, aber im Grunde ist es eine Verschiebung der individuellen Krankheitskosten nach innen. Sie sind eben nicht gerne bereit, dadurch ihren Arbeitsplatz zu gefährden, dass sie sich als Kranke outen.
Nicht auszuhalten: faul auf seiner Haut zu liegen
In Österreich hat Depression als Krankenstands- und Frühpensionsgrund und die Einnahme von Psychopharmaka sehr zugenommen.
In Deutschland gibt es therapeutische Hilfe. Doch der amerikanische Vorschlag, das Trinkwasser mit Antidepressiva zu versetzen, zeigt die Tendenz einer Gesamtgesellschaft mit einer depressiven Subjektstruktur. Dieses Depressive, die Selbstzuschreibung der Leistungseinbußen, dass ich im Grunde nur selber schuld sei, ist ein uraltes amerikanisches Problem. Ich war Ende der 70er Jahre in den USA Gastdozent und war bestürzt, in welcher Weise die Menschen, wenn sie arbeitslos werden, das auf sich und nicht auf die Strukturen beziehen. Das macht die amerikanische Arbeiterbewegung so schwierig. Die psychische Gesundheit ist, gemessen an der medizinischen klinischen Gesundheit, viel schwerer zu fassen und mehr auf die einzelnen Subjekte bezogen. Die Dunkelziffer bei den Berechnungen des Krankenstandes der Depressiven ist ungeheuer hoch.
Österreichs Finanzminister Pröll will, dass das Grundeinkommen nur 500 Euro plus Wohnbeihilfe ausmacht, denn sonst würde um diese niedrigen Löhne keiner mehr arbeiten gehen, wie er ganz offen sagt. Würde wirklich niemand mehr arbeiten?
Das Bedürfnis zu arbeiten ist gleichzeitig ein Vergesellschaftungsbedürfnis. Im Grunde ist diese Gesellschaft seit Jahrhunderten so sozialisiert, dass Arbeit ein Grundbedürfnis ist, weil sie mit Selbstwertgefühl, Kommunikation und Anerkennung verbunden ist. Wir leben nach wie vor in einer Arbeitsgesellschaft. Wenn Menschen sich angstfrei verhalten können, sind sie auch auf dem Arbeitsmarkt angstfrei. Das zur Grundsicherung Dazuverdiente sollte z. B. nicht als Strafe abgezogen werden, denn sonst hat das wenig Sinn. Das Grundeinkommen sollte marktunabhängig sein. Sonst wird es schwierig, Leute zu gewinnen, die sich auf den Markt begeben. In Deutschland wird momentan eher der Mindestlohn von 7,50 Euro brutto pro Stunde diskutiert. Es gibt ja überhaupt zu wenig frei verfügbare oder inhaltlich anständige Arbeit. Marx sagt, die Meinung gewisser Leute, einige lägen lieber faul auf der Haut herum, sei grisettenhaft. Ein Mensch, der normal ausgestattet ist und einigermaßen gesund, braucht eine Portion sinnvolle Arbeit, die ihm Anerkennung von anderen Menschen verschafft.
Viele Arbeitnehmer wollen gar nichts Böses von ihrem Chef annehmen
Das sind Vertrauensverhältnisse, die immer stärker aus der Not geboren sind! Ökonomisch gesehen, ist Staatsunterstützung für die Opel-Mitarbeiter ein Unsinn. Menschlich gesehen ist das eine Tragödie. Gerade diese Vertrauensverhältnisse, die sich zwischen Belegschaft und Betrieben in Jahrzehnten aufgebaut haben, bedeuten eine Heimat der Arbeitnehmer. Arbeiter fragen: Mein Opa, mein Vater arbeiteten bei Opel und ich seit 30 Jahren was machen die mit mir? Doch diese Form des Kapitalismus will die Betriebsbelegschaft in ihrer Abhängigkeit von den Betrieben nicht mehr stützen. Dieser Kapitalismus zerstört bewusst Bindungen! Arbeitnehmer ohne Bindung an die Firma sind besser zu manipulieren, zu entlassen, als die Opelianer. Diese Bindungslosigkeit ist ein zentrales Problem in jeder Gesellschaft. Ralf Dahrendorf, der ja als Wissenschaftler diesen ganzen neoliberalen Quatsch mitproduziert hat, sagt jetzt, dass die Gefahr der Haltlosigkeit der Welt Gewaltpotenzial erzeuge wenn die Menschen nicht mehr wüssten, wo sie hingehören, wo sie ihren Ort haben. Die totale Flexibilisierung der Menschen durch ihre Marktabhängigkeit erzeugt autoritätsabhängige Beziehungen, die im Grunde die Gewaltpotenziale und den Rechtsradikalismus mit befördern. Denn die Bindungsbedürfnisse der Menschen gehen ja nicht verloren! Man will zu irgendeiner Gemeinschaft gehören, und wenn die offiziellen Institutionen diese Bindungen kappen, dann suchen sich die Menschen andere Bindungen. Die Kameradschaftsbindungen sind Angebote der Rechtsradikalen oder die Nationenanbindung: Wir sind Deutsche, wir sind Österreicher. Dieser bevorzugte Rassismus bedeutet, durch Ausgrenzung gewinne ich meine kollektive Identität. Durch Ausgrenzung! Das alles beinhaltet die zentrale Frage der Zerstörung von Bindungen.
Das Schröder-Fischer-Ederer-Phänomen
Was ist unter dem von Ihnen entwickelten Modell des politischen Gemeinwesens zu verstehen?
Ich bin der Überzeugung, dass der Mensch in seiner Grundstruktur ein gesellschaftliches Lebewesen ist. Eine Förderung dieses Bedürfnisses, sich mit anderen Menschen zu verbinden, würde bedeuten, dass wir den Menschen ihre kollektiven Erfahrungsräume vergrößern oder ihnen überhaupt erst welche verschaffen. Vergesellschaftung ist ein öffentlicher Vorgang. Ich kann mich zwar mit meinen Nachbarn und meiner Familie vergesellschaften, aber im Grunde ist der Mensch der Anlage nach ein politisches Lebewesen, so wie Aristoteles das sagte. Er hat das Gefühl mitgestalten zu wollen, was aus der Gemeinschaft wird, in der er lebt. Im Grunde beschädigt der Mensch, wenn er das Gemeinwesen beschädigt, sich selbst. Die Betätigung an dem Wohlergehen des Gemeinwesens ist ein urmenschlicher Zug, dient dem Aufbau der eigenen Identität, den Selbstwertgefühlen, er löst Anerkennungsprobleme, und in diesem Sinne ist Gemeinwesen nicht eine abstrakte Kategorie, sondern eine Wirklichkeitsschicht, in der jeder selber sich bewegt, ob er will oder nicht.
Für Aristoteles gehörte zwar nur der freie Bürger zu den politischen Lebewesen, aber auch für Aristoteles und Perikles war die politische Erziehung und Bildung eine zentrale Form der Förderung der Gemeinwesenbezogenheit des Menschen. Europa wächst mit nur Markt und Kapital nicht zusammen. Hier müssen langfristige politische Bildungsmaßnahmen für ein Gemeinwesen Europas geschaffen werden, denn Europa war bis 1945 eine Schlachtbank. Nicht nur durch die zwei Weltkriege, sondern auch durch die Kabinettskrisen des 17. Jahrhunderts, bei der Schlacht um Leipzig sind Hunderttausende in zwei Tagen umgebracht worden. Gibt es so etwas wie ein nichtkriegerisches Europa? Wenn man sagt, das Gemeinwesen bestehe darin, dass das Kapital sich frei bewegen kann, dann ist da eigentlich schon die Axt an die Wurzel eines solchen Gemeinwesens gesetzt.
Die Sozialstaaten werden geplündert, steht in Ihrem Buch, weil die Reichen kaum mehr in das Gemeinwesen einzahlen, allein die Armen über die indirekten Steuern. Dann soll kein Geld für Schulen da sein. Ihr, die Bürger seid die Schuldner, wird gesagt, dabei zahlen die doch fleißig ihre Steuern. Haben Sie den Eindruck, dass die Wirtschaft den Staat übernommen hat?
Zum ersten Mal in der Geschichte ist eigentlich die Gesellschaft zum Anhängsel des Marktes geworden. Wir hatten in der Nachkriegszeit Diskussionen über den monopolistischen Staatskapitalismus und hatten die Idee, dass der Staat der ideelle Gesamtkapitalist sei. Heute macht man gerade in der Finanzkrise die Erfahrung, dass der Staat der reelle Gesamtkapitalist ist. Gerhard Schröder ist Berater für ein russisch-deutsches Konsortium der Ölversorgung. Joschka Fischer ist Beteiligter an der Konkurrenzlinie Nabucco, er berät auch Daimler Benz. Ich will damit sagen, dass die Politik nicht nur in diesem großen Rahmen von Staatsgarantien für Banken tätig ist, sondern dass offenkundig die Politiker auch, wenn sie ihr Amt verlassen, nur den Schreibtisch verändern.
Die Wirtschaft schafft sich ihren Staat
In Österreich sind viele Politiker weiterhin Unternehmer. Gerade war eine große Debatte im Fernsehen, dass die außerparlamentarische Immunität der Abgeordneten abgeschafft werden soll in Bezug auf die Unternehmen der Abgeordneten. Es sind mehrere Verfahren anhängig, z. B. gegen Martin Graf.
Es existiert eine strukturelle Assimilation von wirtschaftlichen und staatlichen Interessen, wie sie in dieser Weise noch nie existiert hat. Es ist eine Umkehrung. Die Wirtschaft schafft sich ihren Staat. Bei Berlusconi als Großunternehmer verschwimmen die Grenzen zwischen Privatwirtschaft und Staat, so dass der Staat nicht nur Reperaturgewerbe ist, sondern er wird eigentlich zu einem in der Struktur ähnlichen Wirtschaftsunternehmen, das betriebswirtschaftliche Rationalisierung in die Staatswirklichkeit schiebt. Was ja völlig absurd ist, von der Geschichte der Nachkriegszeit her, denn der Sozialstaat ist ja gerade der Versuch, die Angstfreiheit der Menschen zu begründen, indem sie nicht dauernd über ihre Existenz nachdenken müssen. Was in der Nachkriegszeit wirklich zu einer Stabilisierung der demokratischen Verhältnisse geführt hat. Und jetzt wird der Sozialstaat geplündert! Die Ausgrenzungspolitik betrifft nicht nur die Ausländer, sondern die eigene Bevölkerung wird von Partizipationsmöglichkeiten in einer Gesellschaft ausgeschlossen, in der Kapitalinteressen dominieren. Die Herrschaftsstruktur beruht auf Exklusion. Und das Drittel der dauerhaft Überflüssigen und Ausgeschlossenen macht dann Aufstände wie in Frankreich, wenn der Kapitalismus das Gemeinwesen an den Rand drängt. Es ist nicht unsinnig, das Bankensystem nicht zusammenbrechen zu lassen, aber die Verteilungsgerechtigkeit ist weg. Es müssten Gemeinwesen-Arbeitsplätze erzeugt, die Städte saniert werden, und Bildung und Gesundheit dürfen nicht dem Markt überlassen werden.
Info:
Gemeinsam mit Alexander Kluge erhielt Oskar Negt in Wien den Bruno Kreisky Preis. Marie Jahoda erhielt ihn 1997.