Karl Kraus und der Nationalsozialismus IIDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 25

Menschen gehen aus und werden in einem verlöteten Sarg ihren Familien zurückgestellt.

Karl Kraus, 1933

Karl Kraus hat die Frage, ob sein kritisches Instrumentarium dem Nationalsozialismus gewachsen sei, klar beantwortet. Er verzichtete auf die Veröffentlichung der Dritten Walpurgisnacht, in der nicht nur alles steht, was man 1933 über die Nazis wissen sollte und konnte, sondern auch über die, welche es nicht wissen wollten. Dass die österreichische Sozialdemokratie ihre vorgeblich internationalistischen Ziele über die Etappe eines Anschlusses an Deutschland verfolgte, hatte er bereits in den 20er Jahren als nationalistisches Ziel durchschaut, und diese immer wieder befragt, warum sie es nicht über Frankreich versuche, von welchem kolonisiert zu werden er, wie er ganz und gar nicht polemisch beteuerte, dem Anschluss an schießende Koofmichs (Berliner Slang für Krämer, Normalbürger, R. S.) vorzöge. Denn die Entscheidung, vielleicht doch lieber eine Kolonie Frankreichs als eine Preußens zu sein, dessen Sprache schwerer zu verstehen ist, erscheint noch nicht aktuell. Bis dahin bleibe diese Geistigkeit () der Selbstaufopferung für ein Deutschtum fähig, das sich nach alter Usance bedroht fühlt, sobald es in Land- und Weltbedrohung gehemmt wird.

Was sich erst späterer Faschismusforschung erschloss und der Erfahrung von Millionen Opfern aufdrängte, dass der Nationalsozialismus in Ausmaß und Wesen sich von den anderen nationalistischen Diktaturen unterschied, die ab den 20er Jahren junge, instabile Demokratien niederzwangen, dass Hitler nicht mit Dollfuß, Pilsudski, Atatürk, Franco und auch nicht mit Mussolini zu vergleichen war (der stets unter dem Mentalitätsproblem litt, an Entschlossenheit und Brutalität mit jenem nicht Maß halten zu können), war Kraus evident. Denn wo die k. u. k. Monarchie in Kriegszeiten Opposition zensurierte und diskriminierte und auch die neueren faschistoiden Diktaturen zumindest den Schein von Zivilität mehr oder minder zynisch zu wahren versuchten, machte der Nationalsozialismus deren völlige Liquidation und mit ihr die Unmöglichkeit jeglicher Appellation unverhohlen zum Programm. Gerade jene linken Kräfte, die sich Kraus künstlerischem Weltbild kraft ihrer wissenschaftlichen und objektivistischen Analyse gesellschaftlicher Prozesse überlegen dünkten, scheiterten an diesem neuen Feind. Denn unser politisches Gedankenleben atmet frei im luftleeren Raum, in dem sich die Sachen nicht stoßen, und wehrt sich gegen die Vorstellung, dass draußen der Feind steht. Wir glauben halt, dass der auch nur Phrasen macht wie wir. Großmutter, was hast du für ein großes Maul? Dass ich dich besser fressen kann! Eine künftige Kindheit, falls Hitler und die Folgen sie aufkommen lassen, wird dem Rotkäppchen erst seinen Sinn abgewinnen. (Auch der Pointe der Großmutter.) Diesem Feind schien neben dem Kommunismus nur noch die von der Theorie verlachte, doch von Kraus gefeierte Persönlichkeit zu widerstreben. Denn von der allgemeinen Paralyse hoben sich vor allem die Beispiele beherzter Einzelkämpfer ab, wie der Berliner Vizepolizeipräsident Bernhard Weiß, der Goebbels von 1927 bis 33 mit bewunderungswürdiger Härte in die Schranken wies, wie der bulgarische Kommunist Georgi Dimitrov, der als Angeklagter des Reichstagsbrand-Prozesses die Kläger mit einer Analyse anklagte, die bewies, dass die Sprache gegenüber den Nazis noch einige Trümpfe im Ärmel hatte, oder wie mit Einschränkungen der österreichische Kanzlers Dollfuß, der ihnen die Stirn bot und für Kraus somit Politik als die Kunst des Möglichen betrieb.

Je banaler das Böse, desto gefährlicher

Und so polierte Karl Kraus im schmerzlichen Wissen um dessen Unangemessenheit ein letztes Mal sein gesamtes satirisches Arsenal, um es entsetzt über das Ausbleiben geistigen wie politischen Entsatzes einmal noch gegen den neuen, bisher schlimmsten Feind ins Feld zu werfen. Sarkastischer, sachlicher, zeitgemäßer als je zuvor entblößte er in voller Kenntnis der kleinbürgerlichen Banalität der Nazis sowie der ihnen zugrunde liegenden Kapitalinteressen die massenpsychologischen Ingredienzien ihrer Ideologie und Praxis: die Rache einer als Bestialität wiederkehrenden menschlichen Natur an ihrer Deformation, an der Prostitution von Leben und Tod an den Zweck und die Opferung des Anderen in Form der Juden als Entschädigung für die eigenen Identitäts-Kerker.

Als Mensch und Natur zur Ware reduziert und die Auswege aus feindlicher Natur und Aberglauben, die einst die Bewegungsfreiheit aller versprachen, einzig zu dem Zweck asphaltiert wurden, um Märkte und Schlachtfelder zu verbinden, da sprengten nicht widerborstige Disteln und sonniger Löwenzahn die Asphaltschicht, wie romantische Zivilisationskritiker es gern gehabt hätten, sondern die Lava eines Irrationalismus, der Kraus apokalyptische Visionen vom Vorabend des Ersten Weltkriegs verblassen ließ.

Seine Shakespeare-, Schiller- und Goethe-Zitate, mit denen er die neuen Untergangster des Abendlandes und ihre Taten, gegen die es in Chicago Polizeischutz gibt, paraphrasiert, verleitete die Halbbildung zuweilen zu dem Vorwurf der metaphysischen Überhöhung des NS-Regimes. Das rührt aber einzig davon her, dass diese Zeitungs- und Fachmagazinleser aus der Sprache der Klassiker nur jenes Pathos, jenen Heroismus heraushören, mit welchem die Halbbildung zu Kraus Zeiten diese verklärte. Niemand hat das im rechten Spektrum beliebte Konzept des faustischen Tatmenschen eindringlicher verspottet als Kraus. Und niemand war sich zu seiner Zeit eher bewusst, dass diese Verquickung von Romantik und Technik, von Irrationalität und Zweckrationalität die probate Ideologie der kleinbürgerlichen Koofmichs ist, dass dieses Böse jämmerlich banal ist, aber deshalb umso gefährlicher.

Die Rache der Natur zeigt sich auch in der Totalität der bürgerlichen Warenbeziehung, wo der Mensch nur noch Händler, Käufer und Gehandelter sein darf und diese Kastration mit dem synthetischen Testosteron eines stählernen Willens kompensieren muss und dieser ebenso archaische wie künstliche Heroismus nur auf den Bahnen der Rücksichtslosigkeit und Entmenschlichung lospreschen kann, die der freie Markt vorgezogen hat. Von Andreas Hofer bis zur Action francaise ist häufig der verschuldete Wirt der Haudegen der rechten Agitation, und das letzte Abenteuer des intellektuellen Stubenhockers ist die dandyhafte Selbsterhebung über die Moral, wie auch heute noch fortschrittliche Philosophen demonstrieren, die mit Ernst Jünger vorgeben, über gefrorenen Boden besser gehen zu können und erwartungsgemäß ausrutschen. Die Persiflage des Kommis bzw. Koofmichs, der auf Teufelskerl macht, war eine besondere Spezialität Johann Nestroys, Karl Kraus hat sie mit eigenen Mitteln verfeinert.

Befreiungskrieg zum Zweck der Sklaverei

Die Dritte Walpurgisnacht ist der Versuch, mit den Mitteln der aufklärerischen Satire das neue Phänomen nationalsozialistischer Macht und Ideologie zu fassen. Nicht immer, wie sich Kraus wohl bewusst war, gelingt das, am besten aber, wo er am kühlsten und sachlichsten dokumentiert und glossiert und sich der Wortwitz nicht vor den Aberwitz des Beschriebenen stellt: bei seiner Sprachkritik und der Darstellung der Renegaten, Profiteure und Opportunisten.

Lange schon zeigte sich, dass das neudeutsche Sortiment nichts Gutes im Schild führe wie im Schaufenster: lauter Tat und Wille, nichts als Blut und Erde, jedes Schlagwort eine Handgranate, Volltreffer jeder Blick aus diesen Einheitsgesichtern von Autoren, die wie ihre Leser ausschauen; der trostlose Optimismus einer Generation, die etwas von Dem Tod ins Auge gesehn haben gehört hat und sich dadurch zu nichts verpflichtet fühlt als zur Wiederholung und zur Vergewaltigung der Mitmenschheit. Betrieb einer Büromantik von Befreiungskriegen zum Zweck der Sklaverei. Gewimmel von Verwendbaren: Belletristen, Gesundbeter und nun auch jene Handlanger ins Transzendente, die sich in Fakultäten und Revuen anstellig zeigen, die deutsche Philosophie als Vorschule für den Hitler-Gedanken einzurichten. Da ist etwa der Denker Heidegger, der seinen blauen Dunst dem braunen gleichgeschaltet hat Erstaunlich ist, wie dem Dichter, dem man schon weltabgewandtes Schwelgen in antiquierter Hochkultur unterstellte, keine nachdrängende Generation intellektueller Popstars entgeht, wie dieser verdiente 59-jährige Kritiker als Erster überhaupt sich die Phänomene Martin Heidegger und Gottfried Benn vornimmt und Letzteren als den exemplarischen Regimeintellektuellen vorführt, dessen Sprache ihn als unechten Nazi, als rein opportunistischen Liebdiener des Systems entlarve. Erstaunlich auch, wie jemand, dem man gerne nachgesehen hätte, wenn ihm zu Hitler wirklich nichts eingefallen wäre, wenn sein subtiles, über drei Jahrzehnte bewährtes Instrumentarium vor der alles, was er bislang gehasst hatte, in den Schatten stellenden Primitivität resigniert hätte, sich zu einem letzten literarischen Kraftakt aufbäumt, der spätere Nazismuskritik vorwegnimmt. Dass er auf dessen Publikation aus Angst um seine Person verzichtet habe, wird durch den Abdruck vieler nazikritischer Passagen in der Fackel vom Oktober 1934 widerlegt. Die Tragik daran: Fast niemand wusste von der Existenz der Walpurgisnacht, und dennoch wussten auch die, die von Kraus abfielen, dass nur er dem Zynismus dieser Wirklichkeit satirisch gerecht werden konnte. Walter Benjamin schrieb 1939: Karl Kraus ist denn doch zu früh gestorben. () die Wiener Gasanstalt hat die Belieferung der Juden mit Gas eingestellt. Der Gasverbrauch der jüdischen Bevölkerung brachte für die Gesellschaft Verluste mit sich, da gerade die größten Konsumenten ihre Rechnungen nicht beglichen. Die Juden benutzten das Gas vorzugsweise zum Zweck des Selbstmords. Ein halbes Jahr später entzog sich Benjamin selbst den Nazis durch Freitod.

So bedauerlich es ist, dass Kraus die politische Aufklärung, die er mit der Dritten Walpurgisnacht betrieb, der Öffentlichkeit vorenthielt, so bedeutsam erweist sich das Zeugnis eines Unkorrumpierbaren, der in Wannseekonferenz und Auschwitz nicht Zäsur, sondern Kontinuität dessen erkannt hätte, wovon er bereits 1933 Zeugnis ablegte und was der Autobahn, der Vollbeschäftigung und den Olympischen Spielen vorausging dem Andenken all der Blutzeugen verpflichtet, die daran glauben mussten, der Zertretenen und solcher, die nur Siechtum davontrugen: des hingerichteten Helden von Hamburg und der Mutter, die es durchs Radio erfuhr und schreiend auf die Straße stürzte; der Frau in Köln, die, als sie den Mann peinigten, in Todesangst aus dem Fenster sprang und mit gebrochenen Beinen liegen blieb; des Zugs der Kremser Hilfspolizei, in den der feigste aller Morde schlug; der Getöteten und Verstümmelten im Wiener Juwelierladen; des greisen Rabbiners, der in Oberwiesenfeld das Hinrichtungsspiel erlitt, bis es doch Ernst wurde; des Kindes (), das weinend der Mutter nachlief, die als Geisel durch die Gassen von Pirmasens geschleift wurde, damit der entflohene Vater zu seinen Mördern zurückkehre.

Karl Kraus hatte keine geheimen Informanten, er las nur die Zeitung. Und entzog, wenn schon nicht der Mitwelt, so doch der Nachwelt dem Selbstbetrug ein für allemal den Nährboden , dass man es ja nicht hätte wissen können, dass das NS-System zwar kritikwürdig gewesen, aber erst 1942 vollends pervertiert sei, dass der Hitler-Attentäter Stauffenberg ein Held und nicht zehn Jahre lang Handlanger eines Systems war, gegen dessen menschliche Abartigkeit sich jeder Superlativ des Schreckens sträubt, dass die totale Vernichtung des Anderen zur Zeit der Niederschrift der Dritten Walpurgisnacht nicht nur an den Worten, sondern bereits an den Taten der Nazis erkennbar war.

Wie lange noch!, so fragt Karl Kraus am Schluss seines Buches rhetorisch. Nicht so lange, als das Gedenken aller währen wird, die das Unbeschreibliche, das hier getan war, gelitten haben, jedes zertretenen Herzen, jedes zerbrochenen Willens, jeder geschändeten Ehre, aller Minuten geraubten Glücks der Schöpfung und jedes gekrümmten Haares auf dem Haupte aller, die nichts verschuldet hatten, als geboren zu sein! Und nur so lange, bis die guten Geister einer Menschenwelt aufleben zur Tat der Vergeltung. Und lässt neben diesen Wunsch einer alliierten Bestrafung das Buch mit Versen aus dem Faust II enden, dem Desiderat des Tyrannenselbstmordes, das sich erst neun Jahre nach seinem Tod erfüllen sollte:

Sei das Gespenst, das gegen uns erstanden,

Sich Kaiser nennt und Herr in unseren Landen,

des Heeres herzog, Lehnsherr unsrer Großen,

Mit eigner Faust ins Totenreich gestoßen!

Lesetipps:

Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. Suhrkamp Verlag 1989

Michael Scharang: Zur Dritten Walpurgisnacht. In: Das Wunder Österreich. Luchterhand Verlag 1991