Karl Kraus und die JustizDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 12

eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht, als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen.

Oscar Wilde

Das Gesamtwerk von Kraus hat den Charakter eines gigantischen Protokolls von einer endlosen Gerichtsverhandlung angenommen, in der die ganze zeitgenössische Welt unentwegt unter Anklage stand.

Ernst Krenek

Wenn England seine Verbrecher so schlecht behandelt wie mich, verdient es keine zu haben.

Oscar Wilde

Und wenn ein deutschsprachiges Publikum um 1900 Kenntnis davon nahm, dass Oscar Wilde nicht bloß ein affektierter Dandy war, sondern ein beherzter Kritiker der politischen Verhältnisse im Allgemeinen, der Justiz im Besonderen und das lange, bevor diese ihn wegen seiner Homosexualität in den Kerker sperrte , dann verdankt sich das auch Karl Kraus, der Texte des von ihm geliebten Dichters wiederholt in der Fackel abdruckte.

Kraus kritisierte die Justiz nicht nur, sondern regte auch Reformen und Gesetze an. So zum Beispiel 1906 Straffreiheit für diejenigen Braven, welche das Bepissen von Dichtergräbern durch den Kulturjournalisten Max Nordau mit ein paar erlösenden Ohrfeigen vergelten. Nordau hatte sich in der Rezension einer Inszenierung von Wildes Salome mit derben Untergriffen gegen den Dichter dem gesunden Volksempfinden angedient.

Weder beschränkte sich Karl Kraus Beschäftigung mit der Justiz auf derlei Polemik, noch strebte er wie fälschlich unterstellt gleich Oscar Wilde die Abschaffung der Strafjustiz an, wenngleich er derlei anarchistischen Tendenzen mit distanziertem Wohlwollen begegnete.

Kraus Auseinandersetzungen mit der Justiz bilden neben Presse- und Sprachkritik einen der tragenden Pfeiler seines Lebenswerks. Der 1908 erschienene Sammelband Sittlichkeit und Kriminalität beinhaltet die exemplarischen Kreuzungen aus Essay, Realsatire, Prozessberichterstattung und Strafgericht, dem er die Rechtssphäre selbst, von der Gesetzgebung bis hinab zum Urteilsspruch, unterwarf. Wie eigenartig, dass sein so evidentes Verhältnis zur Justiz ein weißer Fleck in der Kraus-Rezeption blieb, den erst der Jurist Reinhard Merkel 1998 mit seiner verdienstvollen Studie Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus beträchtlich verkleinerte.

Kraus liebstes Hassobjekt ist das Sittlichkeitsrecht, dort wo Gesellschaft und ihre Institutionen den Verkehr der Geschlechter reglementieren. Mit der Knute seiner Sprachkunst, für die das Attribut Brillanz zum Euphemismus verkommt, treibt er Sittlichkeit und Kriminalität, Ethik und Strafrecht auseinander und geißelt den Gesetzgeber als schnüffelnder Reporter, der vor der Öffentlichkeit die Dessous des Lebens lüpft; Gerechtigkeit als indiskreter Dienstbote, der an Schlafzimmertüren horcht und durch Schlüssellöcher späht. Nicht bei einem zahmen Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein setzt Kraus Arbeitshypothese im Kampf gegen das bürgerliche Patriarchat an, sondern sogleich jedem wirft er den Fehdehandschuh ins Gesicht, der es wagt, das Privatleben freier Individuen zu pönalisieren. Nie zuvor und leider nie danach fanden Prostituierte, Ehebrecherinnen, Schwule, Perverse einen derart kühnen Anwalt, nie zuvor und leider nie danach wurde die ideologische Funktion der Sittlichkeitsjustiz als Rache des Naturbeherrschers an der Sinnlichkeit, die er sich versagt, geistreicher auf den Punkt gebracht. Nie zuvor und leider nie danach ein brisanter mit Witz, Wut und Scharfsinn gefülltes Geschoß mit stärkerem Drall in die Eingeweide der bürgerlichen Ordnung katapultiert.

Hierbei bewährt sich bestens das satirische Mittel, die Vorwürfe der Kläger gegen sie selbst zu wenden. Mit geradezu kindlicher Sprachverspieltheit, die seinen Ernst nie schmälert, wandelt er die Verdikte Hure, Schandlohn, Kuppelei, Unzucht etc. in stets neuen Variationen zu Charaktermerkmalen von Richtern, Staatsanwälten, Geschworenen und Journalisten ab. Dass die Zügel, mit welchen der Wortwitz von Ethos und Sache gelenkt werden, stets straff bleiben, legitimiert seine geistige Autorität.

Nur drei Rechtsgüter erkennt er an: den Schutz der Wehrlosigkeit, der Unmündigkeit und der Gesundheit. Auf diese noch arg verwahrlosten Rechtsgüter werfe sich die Sorge, die heute das Privatleben von staatswegen belästigt.

In Sittlichkeit und Kriminalität sind die Prozesse seiner Zeit als literarische Zeugnisse juristischer Schäbigkeit verewigt, wie die Fälle Klein, Veith, Beer, Ruttersberger, oder etwa jener der Leontine von Hervay, der Gattin des Bezirkshauptmanns von Mürzzuschlag, die nach dessen Selbstmord Opfer einer konzertierten Hetzjagd durch Presse, Justiz und Mob wurde und einzig in Kraus einen Verbündeten fand. In Der Hexenprozess von Leoben legt dieser formvollendete Zeugnisse seiner Strafsatire ab: Und österreichische Behörden, die sonst im Schweiße ihres Angesichts den Täter suchen, fahndeten diesmal steckbrieflich nach der Tat. Mindestens war Leontine von Hervay schuldig, sich durch fünf Monate der Herstellung eines Tatbestands hartnäckig widersetzt zu haben. Je geringer die Aussicht auf die juristische Fundierung einer Anklage wurde, desto länger musste ihre Untersuchungshaft dauern, die erst geendet ward, als der erlösende Einfall Bigamie sich der Sterzschicht unter der Schädeldecke eines steirischen Staatsanwalts entrang. () Pfui über eine Regierung, die in diese richterliche Unabhängigkeit von Vernunft und Erbarmen nicht eingreift, die die Ungeheuerlichkeit einer Verhaftung wegen des Verdachts, verdächtig zu sein, geschehen lässt

Oder mit jenen eindringlichen Worte, mit denen Kraus die Unantastbarkeit des Richters antastete und die archaische Tradition des Bannfluchs in den Dienst der Aufklärung stellte. Johann Feigl, Hofrat und Vizepräsident des Wiener Landesgerichts, hatte als Vorsitzender einer Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen dreiundzwanzigjährigen Burschen, der in Not und Trunkenheit eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr die Handtasche zu entreißen versucht hatte, zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt.

,,Wenn Herr Feigl, schrieb er, einst sein tatenreiches Leben endet, das etwa zehntausend Jahre, die andere im Kerker verbrachten, umfasst hat, so mag sich ihm in schwerer Stunde, vor der Entscheidung einer höheren Instanz, die Beichte seiner schwersten Sünde entringen; ‚Ich habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz angewendet!‘

Satire als ethisches Komplement der Justiz

Scherte sich Kraus sonst wenig um die theoretische Fundierung seiner Arbeit, so lässt sein Verhältnis zu Recht und Rechtswissenschaft einen eigentümlichen akademischen Ehrgeiz erkennen. Das hat weniger damit zu tun, dass er zwischen 1891 und 96 an der Juridischen Fakultät immatrikuliert war, oder dem Umstand, dass er selbst Zeit seines Lebens an die 100 Prozesse führte, als mit dem Interesse an einer Wissenschaft, die wie keine andere in politische und gesellschaftliche Wirklichkeit interveniert. Rechtliche Praxis und Theorie sind sowohl dramatische Verdichtung gesellschaftlichen Unrechts als auch unmittelbares Kampffeld der Humanisierung. Der junge Kraus studierte juristische Fachmagazine und verfolgte Prozesse mit wütendem Eifer.

So bemühte er sich um den Austausch mit den zwei wichtigsten österreichischen Rechtswissenschaftern und -reformern seiner Zeit, dem konservativen Heinrich Lammasch und dem liberalen Franz von Liszt, deren Achtung er infolge seiner für einen Laien erstaunlichen Kenntnisse, aber mehr noch durch sein unerbittliches Aufspüren vieler Schwachstellen der Rechtssphäre gewinnen konnte. Lammasch und Liszt publizierten gelegentlich in der Fackel, Kraus rezensierte ihre Bücher und war peinlich bedacht darauf, sein kritisches Pathos in Fragen des Rechts durch fachliche Expertise gedeckt zu wissen. Diese anerkannten Kraus Ambitionen wohl auch in der stillen Genugtuung, dass er sich als Satiriker eine Lautstärke leisten konnte, die ihnen verwehrt blieb und er somit Swifts und Lichtenbergs Bestimmung der Satire als ethisches Komplement der Justiz erfüllte. Dass seine Klage nicht nur laut, sondern perfekt durchkomponiert war, verlieh im einige Autorität zu einer Zeit, als die Übereinstimmung von Form und Inhalt noch nicht als Fleißaufgabe oder Angeberei abgetan wurde.

Reinhard Merkel schmälert Kraus Ansehen keineswegs, wenn er detailliert dessen juristischen Schwächen extrapoliert und das Einverständnis mit Liszt als auch Lammasch in einigen Punkten als Missverständnisse erkennt, da sich manche reformatorische Positionen dieser Lehrer bei weitem nicht so human ausnahmen, wie es ihr Schüler sich gerne einreden wollte.

theils Klassen-, theils Gefühlsjustiz

Alle Hoffnungen indes, in Kraus einen Parteigänger der straffreien Gesellschaft zu finden, gehen fehl. Zum Schutz des Individuums plädiert Kraus für eindeutige Gesetzlage. In seiner Kritik der Richterwillkür wird Kraus noch der radikale Liberale abgenommen, seine Skepsis gegenüber der demokratischen Instanz der Geschworenen hat ihm aber den Vorwurf des feudalistischen Konservatismus eingetragen. Zu Unrecht! Er traut dem Individuum nicht übern Weg, zumal es sein Urteil der Zeitung entnommen hat, der er noch weniger übern Weg traut. Kraus erhebt nicht im Namen ständischer Verfassung gegen den Liberalismus Partei, sondern zugunsten des utopischen Moments eben jenes Liberalismus, als der noch jung und hoffnungsfroh war, ehe die Freiheit des Individuums zur Freiheit der Ware, ihrer Zirkulation und ihrer Händler wurde, und diese freien Tauscher sich in ihrer Freiheit täuschten, indem sie sich, ihr Denken und Fühlen der Ware selbst anglichen.

In der Frage des Geschworenengerichts, wo bloß kollektives Ressentiment über den Menschen befinde, plädiert Kraus eindeutig für Berufsrichter. Bereits im ersten Jahr der Fackel konstatiert er bei den Geschworenen theils Klassen-, theils Gefühlsjustiz. Und nur als Figur dialektischer Ironie weiß er diese gegen die Institution des Schöffengerichts, also juristisch qualifizierter Laien, aufzuwerten, denn die Lebenskenntnis des Kleingewerbes versöhnt wenigstens durch jene Ranküne, die lieber große Diebe hängt, und wenn ein Greißler richtet, so ist es immerhin die Volkesstimme, die wir mit ihren vielen Nebengeräuschen schließlich als etwas Unabwendbares hinnehmen. Die Grammophonplage mit allen Platten einer eingelegten Intelligenz wäre ärger.

In seiner Kritik von Gustav Klimts Bild Jurisprudenz äußert Kraus die Hoffnung, dass kommende Geschlechter den mystischen Strafbegriff verleugnen und die Abschreckungstheorie mit einer Besserungstheorie vereinigen werden, indem sie das Gebiet des Verbrechens aufteilen zwischen dem Sozialpolitiker, der Verbrechen verhütet, und dem Arzt, der Verbrecher heilt.

Die europäische Rechtsgeschichte gibt Kraus Recht, vor allem dort, wo er seinen systemkonformen akademischen Gewährsleuten voranpreschte. Es dauerte Generation, bis die von ihm eingeklagten Gesetze gegen Kindesmisshandlung umgesetzt wurden, die inkriminierten Paragraphen gegen Prostitution, Homosexualität und Ehestörung fielen. Trotz Liberalisierung prägen nach wie vor Klassen-, Rassen- und Geschlechterdünkel die juristische Praxis. Jene gegenüber Menschen dunkler Hautfarbe verdiente jedenfalls eine pointiertere Kritik als harmlos-moralisierende Filmchen wie Operation Spring. Eine Kritik, die der Justiz wieder kalten Schweiß in die Talare triebe.

Literaturtipps:

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. Frankfurt a. Main 1987

Reinhard Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Frankfurt a. Main 1998