Karl Kraus zwischen alter und neuer KunstDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 21

Ich mag mich drehen und wenden, wie ich will, überall zeigt mir das Leben seine Verluste, da es entweder das Malerische dem Nützlichen oder das Nützliche dem Malerischen opfert.

Karl Kraus

Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten. Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr Zusammenhang als die Lüge, die neben uns schreitet.

Adolf Loos

Jung sein vor der Kunst, heißt mit unverminderter Frische und Ablehnungsfähigkeit, dem Maß hoher Erlebnisse treu, Unwesen und Unzulänglichkeit an sich nicht herankommen lassen. Alt sein, heißt mithatschen.

Karl Kraus

Man hat so seine Schwierigkeiten mit Karl Kraus. Weder weiß man recht, welcher literaturhistorischen Schule man ihn zuordnen soll (und behilft sich mit der pompösen Verlegenheitsvokabel Wien der Jahrhundertwende), noch weiß man, ob er nun ein Moderner oder Anti-Moderner war, und entscheidet diese Streitfrage gemeinhin zugunsten seines angeblichen Konservatismus. Zwar gilt Kraus als eifriger Adjutant des Architekten Adolf Loos im Kampf gegen den Ornamentwucher und als Förderer von Künstlern, die allgemein dem Expressionismus zugeschlagen werden, wie Wedekind, Trakl, Lasker-Schüler und Kokoschka, andererseits hatte er für weitaus mehr Expressionisten und ihr Werk nur Hohn übrig, und konnte diesen zu ihrem Leidwesen auch argumentieren; er verabscheute das moderne Theater Max Reinhardts und Erwin Piscators, hielt an seiner Loyalität zu den Altvorderen der deutschen Dichtung fest, zu Goethe, Jean Paul und Mathias Claudius, sowie an einem sprachlichen Duktus, den viele für antiquiert hielten. Dann wiederum erstaunte er in den späten 20er Jahren mit seiner Bewunderung für Bertolt Brecht.

Kraus ging es eben nicht anders als seinem geliebten Nestroy, der die zeitgenössischen Flachköpfe immer vor das Problem gestellt hat, ob er mehr Reaktionär oder Revolutionär sei anstatt dass sie den Bau seiner Sätze besichtigt hätten

Künstlerische Wahrhaftigkeit jenseits von Klassik und Avantgarde

Im Kraus-Verehrer Adorno fand die Avantgarde des 20. Jahrhunderts ihren enthusiastischsten Apologeten, eine negativistische Kunst, die erst in der Überwindung der alten Form ihr subversives Potenzial entfalte. Gegen diese Radikalität erscheint Karl Kraus Kunstverständnis als letztes heroisches, aber zum Scheitern verurteiltes Aufbegehren des bürgerlichen Bildungsideals. Und doch, siehe da, Adorno wurde von der Wirklichkeit überholt, die Kulturindustrie vereinnahmte nicht etwa auch die Avantgarde, sondern gerade sie! Ihre formale Sperrigkeit, die Überwindung der klassischen Form, ob Tonalität, gegenständliche Abbildung oder Syntax, rettete sie nicht vor, sondern förderte ihre Fetischisierung durch die Bildungsphilister. So entpuppt sich Kraus Kunstsinn, exemplarisch in der Literatur, wenn schon nicht als zeitloses Maß, so doch als zähes Widerstandsnest und letzte unbeirrbare Hoffnung der Befreiung der Kunst aus dem Snobsupermarkt.

Karl Kraus verteidigt nicht etwa das Alte gegen das Neue, sondern prüft Letzteres nur härter, indem er dessen tatsächlichen Neuigkeitswert an dessen Anspruch misst. Nach wie vor, 70 Jahre nach seinem Tod, gibt es keinen aktuelleren und zuverlässigeren Seismographen für gefakte Revolte und marktkonforme Radikalität als ihn.

Bereits um 1900 weiß er, dass das einst hoffnungsvolle Beschwören des Schönen und Wahren in einer Gesellschaft, deren abstrakte Freiheiten auf Ungleichheit und Verdinglichung schmarotzen, zur hässlichen Lüge verkommt, und die Treue zu diesen Idealen nur durch schöpferische Destruktion noch zu halten ist. Kunst kann nur von der Absage kommen. Nur vom Aufschrei, nicht von der Beruhigung. Die Kunst, zum Troste gerufen, verlässt mit einem Fluch das Sterbezimmer der Menschheit. Doch dem Kunstverständnis, wie Kraus es vorlebte, ist ein konventionelles, aber tief empfundenes und gestaltreiches Gedicht über eine Heckenrose allemal lieber als der radikale Gestus der Huren- und Syphilispoesie mancher Expressionisten, weil er eben nichts als Gestus ist. Kraus kommt den Modernisten allemal auf die Schliche, wenn sich hinter ihrer vorgeblichen Revolte der Aufruhr des Mittelmaßes gegen das Niveau älterer Meister Bahn bricht, ebenso wie er genau abzuschätzen weiß, ob Revolte das Establishment verletzt oder bloß als modische Anregung kitzelt, wofür 50 Jahre vor den Beatniks, 65 Jahre vor den Hippies und 75 vor den Punks seine ironisch-nachsichtige Kritik der langhaarigen Exzentrizität der Bohemiens ein erstaunliches Dokument darstellt:

Sich absichtlich verwahrlosen, um sich vom Durchschnitt abzuheben, schmutzige Wäsche als ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft tragen, über die Verkehrtheit der Gesellschaftsordnung eine ungekämmte Mähne schütteln ein Vagantenideal, das längst von Herrschaften abgelegt ist und heute jedem Spießbürger erreichbar. Die wahre Bohème macht den Philistern nicht mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern, und die wahren Zigeuner leben nach einer Uhr, die nicht einmal gestohlen sein muss. Armut ist noch immer keine Schande, aber Schmutz ist keine Ehre mehr. Mutter Landstraße verleugnet ihre Söhne; denn auch sie ist heute schon gepflegter.

Karl Kraus steht keinesfalls über den literarischen Moden seiner Zeit. Doch ist er in Wissenschaft, Politik und Kunst gleichermaßen Feind allen Klubzwangs. Er kritisiert nicht eine Schule aus den Statuten einer anderen heraus, sondern pickt aus Realismus, ebenso wie aus der Dekadenz, aus Expressionismus wie aus dem Symbolismus, aus der sozialistischen Literatur wie aus der konservativen seine Perlen heraus um den Rest vor die Säue zu werfen. All seine Kriterien für die Evaluierung guter Literatur, guter Kunst, finden ihren Fluchtpunkt in den auf erstem Blick fragwürdigen Kategorien von Echtheit und Persönlichkeit. Doch weder meint er damit Natürlichkeit oder Authentizität, noch spricht er einer Subjektivierung gesellschaftlicher Wirklichkeit das Wort. Ein abgehobener Geck wie seine Bewunderung für Oscar Wilde beweist, der absolute Künstlichkeit propagiert kann dieser Echtheit weitaus mehr teilhaftig werden als der talentierte Slumautor, der ganz unten war. Echtheit bedeutet bei ihm jene größte Demut vor der Form, die den Künstler zu höchster Eitelkeit berechtigt, in Wortkunst der übermenschliche Kraftakt, größtmögliche Schärfe des Gedankens sowie Tiefe der Empfindung, Ernst der Intention sowie Verspieltheit der Sprache zu einem Fluss, zu einem Guss zu formen. Diese Liebe zur Wahrheit, zur Wahrhaftigkeit wird zur Frage des Charakters, und Kraus ist ruhig zuzutrauen, dass seine Vorstellung davon einige dialektische Siebenmeilensprünge weiter ist als jede noch so berechtigte Kritik des Charakters als moralistischen Unsinns.

Frierende mit Rembrandt bedecken

 

Im Architekten Adolf Loos findet er den kongenialen Mitstreiter im Kampf gegen das Ornament, die lügnerische Hülle eines hässlichen Lebens. Adolf Loos und ich, er wörtlich, ich sprachlich, haben nichts weiter getan, als gezeigt, dass zwischen einer Urne und einem Nachttopf ein Unterschied ist und dass in diesem Unterschied erst die Kultur Spielraum hat. Die anderen aber, die Positiven, teilen sich in solche, die die Urne als Nachttopf und die den Nachttopf als Urne gebrauchen. Diese Kulturkritik bliebe bloßes Ringen um Geschmackshegemonie, wäre sie nicht zugleich Sozial- und Ideologiekritik, denn die Wucherer haben einen so ausgeprägten Schönheitssinn, dass ihnen Löwenköpfe, Gottheiten oder Spargelbünde, die Licht geben, weiß Gott lieber sind als eine Sitzgelegenheit. Den Schmutz der Gasse haben sie zuhause und selbst der ist von Hoffmann. Je schöner aber die Welt wird, desto mehr Wucherer ziehen in sie ein und bewundern die Arabesken. Zeitlebens verteidigt Kraus zwar die geliebten bürgerlichen Bildungsgüter vor dem Bürgertum, sieht sich aber bereit, auch diese zu opfern, sobald das Recht ihres Genusses vor die sozialen Grundrechte gestellt wird. Der Empörung über die Versteigerung der Kunstschätze in Schönbrunn zugunsten Notleidender nach dem I. Weltkrieg antwortet er: Ist das Naturrecht verkürzt, die Schönheit zu empfangen, so verkümmert auch die Fähigkeit, sie zu geben. () Wie es um die Malerei bestellt ist, eine Kunst, deren Werk seine Materie nicht überdauert, weiß ich nicht. Wohl aber weiß ich, dass sie, falls ihr eine ähnliche Verbindung mit allem Lebendigem () wie der Sprache eignet, einen Rembrandt erst haben kann, wenn ringsum nicht der Tod die Schöpfung bestreitet, und dass die produktive Tat in leerer Zeit der Beschluss wäre, mit der Leinwand des vorhandenen Rembrandt die Blößen eines Frierenden zu bedecken. Denn der Geist steht zwar über dem Menschen, doch über dem, was der Geist erschaffen hat, steht der Mensch; und er kann ein Rembrandt sein.

Im Bestreben, Adolf Loos als Apologeten eines kalten architektonischen Funktionalismus zu bestimmen, wurde sein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein oft übersehen, das ihn mit Kraus verbindet. So schätzte er besonders die grazile Eleganz der Vormärzarchitektur und den schlichten Klassizismus eines Joseph Kornhäusel, die dem eklektizistischen Kitsch der Gründerzeit vorausgingen. Kraus Verwurzelung in Goethe und seinen Vorgängern aber wird diesem zumeist als Konservatismus angerechnet. Doch nichts ist falscher! Die Formen der Herrenanzüge haben sich seit 1860 kaum geändert, Geistes- und Geschäftsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft seit 1789 gar nicht! Kraus schöpft bloß aus jener Pionierzeit, als die Moderne noch jung und unverbraucht war. Unser Kitschbewusstsein stellt sich das 18. Jahrhundert gerne als Kostümfilm, als geschwollen, geziert, galant vor, und findet das auch noch romantisch. Jenes 18. Jahrhundert, das in England die härtesten materialistischen Romane hervorbrachte und in Frankreich Geister wie Voltaire und Diderot jene Ironie demonstrieren ließ, von der die Postmoderne nur faselt, würde das frühe 21. als die altmodischste Epoche aller Zeiten entlarven, wo der gehobene Konsument, frisch aus der Jugendkultur geschlüpft, seine innere Leere vorzüglich mit retrospektiven Sentimentalitäten wie dem nostalgischen Flair von Henry-James- und Jane-Austen-Verfilmungen austapeziert. Alle die das Schwarzpulver in jeder Generation neu und wirkungsloser erfinden, würden sich eingedenk ihrer Unterschätzung dieser modernsten Zeit der Moderne aus Scham vor die Postkutsche stürzen.

Prinzipiell hat Kraus nichts gegen die literarischen Avantgarden, die seinerzeit in Form von Expressionismus und Dadaismus das bürgerliche Formempfinden provozieren. Ich bin wohl der Letzte, der dem erlebten Misston den Weg in die Wortschöpfung nicht freihielte, und wenn der Verzicht auf das sprachliche Element nur die Macht hätte, das Erlebnis zu übertragen, so wäre gegen die neue Ausdrucksform füglich nichts einzuwenden. (…) Solange ich mit dem Stammler nicht fühle, glaube ich nicht, dass er ein Gefühl gestammelt hat Ihm missfallen bloß die Neutöner, die es aus Unfähigkeit zum alten Ton sind. Im jungen Brecht hingegen würde der 59-jährige Kraus den einzigen deutschen Autor erkennen, der () heute in Betracht zu kommen habe.

Der Nimbus des radikal Modernen, Kompromisslosen, der den Avantgarden zu Joyces und Picassos Zeiten noch eignete, ist heute kontextentbunden, sinnentleert und beschaulich neben Gipsgüssen von Barockputten im Museumsshop zu haben. In seinem Kampf gegen alles Dekorative und Affirmative in der Kunst erweist sich Karl Kraus letztlich als moderner denn die Modernen, weil seine Methode sich bis heute bewährt, die falsche Bärte an deren Fortschrittlichkeit zu lüpfen. Seine große Leistung liegt nicht allein im Jäten des alten Ornaments, sondern im Aufspüren von dessen Samen in jeder noch so progressiven Mode, die vorgab und vorgibt, mit der vorherrschenden Kultur zu brechen. Das literarische Ornament wird nicht zerstampft, sondern in den Wiener Werkstätten des Geistes modernisiert. Keine Sachlichkeit kann folglich sachlich genug, keine künstlerische Provokation provokant genug, kein Schlingel im Kulturbetrieb siefig genug sein, dass Kraus nicht den Dekor, die Phrase, den Fake, die Seichtheit, den Konformismus darin erkennen würde. Wenn Kraus fast alles, was heute als Kultur produziert und verkauft wird, als Mist abtäte, täte er es aber und dies galt es mit diesem Artikel aufzuzeigen gewiss nicht aus Kulturkonservatismus.

Die folgenden Worte, an die Dekadenz-Kunst seiner Zeit adressiert, lassen sich im Sinne ihres Autors durchaus auf die nachfolgenden Kunstmoden anwenden:

Der Mensch ist außer sich geraten. Kein Wort lebt, keine Farbe denn alles ist sowieso laut und bunt. Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn sie nackt sind, auffallend gekleidet gehen. Jede Gebärde eine Arabeske, jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen würde: Mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe und die Herzen von Katzen! () Ich kann tabula rasa machen. Ich fege die Straßen, ich lockere die Bärte, ich rasiere die Ornamente!