Karl Kraus zwischen Fortschritt und UrsprungDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 22

Mein Widerspruch

Wo Leben sie der Lüge unterjochten,

war ich Revolutionär.

Wo gegen Natur sie auf Normen pochten,

war ich Revolutionär.

Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.

Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,

war ich Reaktionär.

Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten,

war ich Reaktionär.

Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.

Karl Kraus

Immanente Kritik ist bei ihm stets die Rache des Alten an dem, was daraus wurde, stellvertretend für ein Besseres, das noch nicht ist.

Theodor A. Adorno

Kraus Beschwören des Ursprungs, flankiert von der positiven Setzung der Begriffe Natur und Instinkt, wurde als untrüglicher Beweis für sein wertkonservatives Weltbild gedeutet. Und wer nicht mitdenkt oder wessen Bildung sich auf Analogiebildung beschränkt, wird das Kraussche poetische Pathos der apokalyptischen Zorn- und Warnpredigt schon rein formal einem antiquierten Kulturpessimismus zuordnen. Die ihn aber gegen derlei Kategorisierung verteidigen, müssen sich zuweilen den Vorwurf gefallen lassen, seine Unfähigkeit zu definitorisch abgesicherter Begrifflichkeit als heroische Systemverweigerung aufzuwerten, wohingegen ihr doch auch bloß Unschlüssigkeit, Schlamperei und degoutantes Desinteresse an den gesellschaftlichen Diskursen zugrunde liegen könnte. Denn wenn er zum Beispiel Kultur als Wert einer negativ bestimmten Zivilisation gegenüberstelle, so bediene er sich doch derselben begrifflichen Antagonismen wie die völkischen Konservativen und sei selbst schuld daran, mit diesen in einen Topf geworfen zu werden da könne man noch so lange herumkontextualisieren, dass er mit Kultur eigentlich die ideelle Seite der Zivilisation, mit Zivilisation aber deren kalte wertenthobene Rationalität meine. Nun, wie zu zeigen sein wird, ist Kraus begriffliche Unschärfe bewusster Ausdruck seines Scharfsinns, mit seiner weltanschaulichen Unschlüssigkeit hat es indes, zumindest bis Ausbruch des I. Weltkrieges, einiges auf sich. In der Tat sucht er in beinahe allen Lagern (bis auf die Deutschnationalen) nach Verbündeten gegen die verhasste geistige und ethische Verflachung durch einen entfesselten Liberalismus, sein teils polemisches, teils ernstes Liebäugeln mit der Grandesse des Adels und dem Ethos des Offiziers sollte ihm anhand der Kriegsrealität schnell und nachhaltig vergehen.

Aber wenn er den Liberalismus zu seinem Hauptfeind auserkort, will heißen: die Durchkapitalisierung aller Lebenssphären, ihr Kahlschlag im üppigen Dschungel des menschlichen Geistes und die industrielle Verarbeitung ihres Sprachschatzes zu tauschfähigen Phrasen, dann handelt er tausendfach beweisbar im Namen jener liberalen Werte, die am Vorabend der antifeudalen Revolution noch die Hoffnung auf die egalitäre Aristokratie aller bedeutete und nicht die Ideologie des Krämers und Rechenschiebers. Konzise konzentriert Kurt Krolop Kraus politisches Programm: An den österreichischen Liberalen war dem Herausgeber der Fackel nicht das Festhalten an den Idealen der alten Achtundvierziger hassenswert, sondern vielmehr deren gleichzeitiger Verrat an die Geschäftsmoral der alten Dreiundsiebziger (); an den Konservativen nicht die Bewahrung von Traditionswerten, sondern deren Verramschung an den Kommerz; an den Sozialdemokraten nicht das Prinzip des Klassenkampfs, sondern dessen Kompromittierung durch die Mittel einer mit der Bürgerwelt paktierenden relativen Moral.

Wenn Kraus mit Shakespeare gegen das moderne Wien ins Feld zieht, so tut er das nicht aus Nostalgie fürs Elisabethanische Zeitalter, sondern weil ihm der englische Dichter eine moderne Individualität offenbart, die die zeitgenössischen Intellektuellen nur wie einen Bart im Gesicht kleben haben. Und er erhebt sich sowohl über liberalistische als auch kommunistische Praxis, wenn er vom Staat nicht nur die radikale Freiheit des Individuums einfordert, sondern als dessen Bedingung gleichsam die Unterdrückung der wirtschaftlichen Freiheit.

Kraus verteidigt die Aufklärung gegen die Aufklärer, die Rationalität gegen die Rationalisten, die Vernunft gegen das, was aus ihr wurde, und gegen die, welche in ihrem Namen die Welt nicht begreifen, sondern vermessen und verkaufen. Der Kunst, für ihn das letzte Refugium persönlicher Autonomie, verwehrt er aber den Rückfall in Irrationalismus, wie ihn die Surrealisten etwa propagierten: Logik ist die Feindin der Kunst. Aber Kunst darf nicht die Feindin der Logik sein. Logik muss der Kunst einmal geschmeckt haben und von ihr vollständig verdaut worden sein.

Mit dem Automobil der Dummheit davon

Ein Wegweiser dorthin, wo Kraus weltanschaulich steht, in der Vergangenheit oder der Zukunft, ist sein Verhältnis zum technischen Fortschritt er steht darüber! Der konservativen Technologiefeindlichkeit kontert er mit dem Lob seiner prinzipiellen Zweckmäßigkeit, dem technokratischen Fortschrittsoptimismus mit dessen Kritik. Wie? Die Menschheit verdummt zugunsten des maschinellen Fortschrittes, und wir sollten uns diesen nicht einmal zunutze machen? Sollten mit der Dummheit Zwiesprache halten, wenn wir ihr in einem Automobil entfliehen können? Und wortwörtlich empfand Kraus das Auto als Befreiung, weil es ihn vor dem Hass des Passanten oder Mitreisenden schützte, aber mehr noch: vor der aufdringlichen Komplizenschaft der Bewunderer.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Es ist nicht gewiss, ob der Philosoph Günther Anders, der profundeste Technikkritiker des 20. Jahrhunderts, derlei Aphorismen von Karl Kraus kannte, die seine eigenen Hypothesen eins zu eins vorwegnahmen: Der moderne Fortschritt wird sich vollziehen, dass gelegentlich der Vervollkommnung der Maschinen sich die Betriebsunfähigkeit der Menschen herausstellt. Den Automobilen gelingt es nicht, die Chauffeure vorwärts zu bringen. Und: Die maschinelle Entwicklung kommt nur der Persönlichkeit zunutze, die über die Hindernisse des äußeren Lebens schneller zu sich selbst gelangt. Aber ihrer Hypertrophie sind die Gehirne des Durchschnitts nicht gewachsen. Von der Verwüstung, die die Druckpresse anrichtet, kann man sich heute noch gar keine Vorstellungen machen. Das Luftschiff wird erfunden und die Phantasie kriecht wie eine Postkutsche. Automobil, Telephon und die Riesenauflagen des Stumpfsinns wer kann sagen, wie die Gehirne der zweitnächsten Generation beschaffen sein werden? Fortschrittspessimist!, würden die Hirne der drittnächsten Generation kerngesund und putzmunter zurückunken, aber nur, weil sie nicht wissen können, dass es nicht unbedingt der Ballast war, den sie und ihre Elternhirne zum Weiterkommen abgeworfen haben.

M i m e s i s!

Mit zwei Aphorismen, Der Fortschritt feiert Pyrrhussiege über die Natur, und dem gespenstischen, weil 20 Jahre vor der Wannseekonferenz gesagten Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut, essentialisierte Kraus ebenso exakt wie brillant Max Horkheimers und Theodor Adornos kritische Philosophie, wie sie diese 1944 in der Dialektik der Aufklärung niederlegen würden. Die beiden Philosophen bekannten sich zu ihrem Vorgänger, wenngleich sie dessen Einfluss nicht in seiner ganzen Fülle eingestehen wollten. So unmöglich es ist, diese aufklärerischste Kritik der Aufklärung in Kürze zu umreißen, ohne in Formeln zu brabbeln, so unerlässlich ist hier der Verweis auf jene Leistung Horkheimers und Adornos, die unmittelbar auf Kraus Sprachkritik zurückverweist. Die beiden hatten das barbarische Potenzial der modernen Vernunft, das in Form einer bloßen Kosten-Nutzen-Rationalität, kannibalischer Marktlogik und letztlich der totalitären Terrorherrschaften ihre einst humanitären Versprechungen desavouierte, bereits im identifizierenden Denken erkannt. Im Benennen als dem Kern jeder Herrschaftstechnik.

Der Mensch befreit sich im Laufe der Zivilisationsgeschichte vom Bann der Naturkräfte, indem er sich diese unterwirft, bereits durch ihre Benennung zügelt er seine Angst, durch ihre wissenschaftliche Kategorisierung vereinheitlicht und beherrscht er sie und sich selbst gleich mit. Der schlaue Odysseus, jener erste Bürger, als den ihn Adorno bestimmt, hat den Machtkampf des ungleichen Tauschs gewonnen, indem er sich dem Kyklopen Polyphemos als Niemand zu erkennen gab. Nicht nur hatte Niemand den Polyphem geblendet, sondern er konnte auch mit sich identisch bleiben, indem er sich der Identifizierung entzog. Das taxonomische Denken, die wissenschaftliche Katalogisierung der Welt, die sich als Voraussetzung einer vernünftigeren Weltordnung ausgab, hackt jedem Seienden sein Besonderes ab, um es dem reibungslosen Verkehr des Verstehens und Tauschens zuzuführen. Es gleicht die bunte Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit der Welt der gnadenlosen Identität ihrer Begrifflichkeit an, hackt Einzelphänomene aus der ebenso bedrohlichen wie sinnlichen Verschlungenheit der Bedeutungsnuancen und zerrt sie aus diesem Dschungel wie an den Hälsen zusammengekettete Sklaven auf den Markt, wo man ihnen auch noch die letzten Reste an Heterogenität auskocht.

So wie Vernunft als Mittel der Emanzipation von Irrationalismus, Aberglaube und ungerechter Gesellschaftsordnung sich bewährte, lieferte sie sich gleich wieder der neuen Irrationalität einer reinen Instrumentalität aus und führte somit das Naturgesetz vom Fressen und Gefressenwerden ungebrochen weiter. So wie die Phantasie des Konsumenten den wendigen Dorsch nur noch als panierten Quader wahrnimmt, verwandelt er sich auf höherer Verwertungsebene selbst zu solch einem. Das sozial progressive marxistische Denken hatte mit seiner technokratischen Sprachregelung und Vergötzung der Naturwissenschaft selbst Teil an diesen epistemischen Massakern.

Was Horkheimer und mehr noch Adorno als äußerstes Zugeständnis an eine Versöhnungsutopie verlangten, ein sprachliches Denken, das m i m e t i s c h sich an seinen Gegenstand schmiegt, ihn in seiner Nicht-Identität ehrt, d. h. in all dem, was der Begriff nicht zu fassen fähig ist, anstatt ihn schnellem Begreifen zu unterwerfen, hatte Karl Kraus vierzig Jahre lang besser eingelöst als sie selbst, hatten sie doch auch trotz ihrer Systemkritik Begriffsmonolithen wie Verdinglichung, falsches Bewusstsein, Racket und Mimesis in die Welt gesetzt, über die Generationen von Adepten in kultischem Einverständnis nickten, während seiner Sprache, die derlei intellektuelle Spielmarken verweigert, man sich mit der gleichen aphoristischen Flexibilität nähern muss, mit der er sich seinem Stoff näherte, dessen Benennung stets das Produkt von Liebesnächten mit der Sprache selbst war Mimesis eben.

Das identifizierende Denken kappt unentwegt die Adern und Sehnen, die die Dinge mit dem Leben verbindet. Würde Mel Gibson Karl Kraus Kampf verfilmen, ließe er diesen sich das Gesicht mit dem Blut beschmieren, das aus den gekappten Adern quillt, bevor er grausam Rache nimmt an jenen, die Welt und Sprache so behandeln, wie sie selbst behandelt werden, wie Gegenstände. Die Rache aber, die Kraus Sprachsatire darstellt, ist bei all ihrer Unerbittlichkeit mit jedem Satz Memento höherer Humanität, mit jedem Satz führt Kraus vor, wie man den Verdinglichern mit nicht verdinglichter Sprache beikommt.

Erkannte Adorno diese Vergeltung als Rache des Alten an dem, was daraus wurde, stellvertretend für ein Besseres, das noch nicht ist, so sah sich Kraus auch als Bote aus der Zukunft, der nur seine Pflicht erstatte an eine andere Zeit, die mich zurückgesandt hat, das geistige Inventar aufzunehmen, das sie kennen muss, um seine Erbschaft zu verschmähen, und damit vom Kladderadatsch dieser ruchlose Banalität doch ein Protokoll vorhanden sei! Denn die einzig wertvolle Urkunde ihrer Geistigkeit ist die Beweisschrift, die sie vor die Nachwelt zitiert.

Was meint Kraus aber mit Ursprung? Der ist kein Königreich von dieser Welt, kein vergangenes reales noch mythisches Goldenes Zeitalter. Mythisch ist dieser Ursprung indes als Einheit von Kultur und Natur, deren Vorstellung erst die Versöhnung beider erstrebenswert macht, damit der Mensch, eingedenk seiner Natürlichkeit, weder diese noch seinen Geist mehr unterdrücken braucht. Ursprung ist andererseits jene fiktive unterirdische Quelle, zu der jeder schöpferische Mensch unter äußersten Schwierigkeiten hinabtauchen muss, nicht allein, um sich dem schädigenden Einfluss kulturellen Brackwassers zu entziehen, sondern um die Elemente, die der jeweils gegenwärtige Ungeist zur Fertigware fügt, in ihrer ursprünglichen Reinheit zu stets neuen Schöpfungen zu schöpfen. Dieses Meer aus Wirklichkeit ist bei Kraus bekanntlich immer ein sprachlicher Ozean. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut: Der Künstler schließt sie zum Gedanken. Im delfinartigen Bild vom Abtauchen zum Ursprung, um mit der Sprache den Gedanken wiederzuzeugen, offenbart sich Kraus radikales Verantwortungsgefühl, die tiefe Ehrfurcht vor allem Gewachsenen und Gewordenen, vor der Schöpfung, deren Wahrnehmung trotz seiner eingestandenen Religiosität eher eine taoistische denn eine katholische ist. Er scheint jedenfalls einen Weg gefunden zu haben, wie sich Souveränität über die Sache auch ohne ihre Unterwerfung erlangen lässt, ein Weg, der ein Ausweg ist.

Lesetipp:

Zum Verhältnis Kraus Kritische Theorie kann nicht oft genug Irina Djassemys großartige Studie: Der Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit empfohlen werden.