Karl-Marx-DorfArtistin

Nur ein paar Fragen vor dem Geburtstagsfest des roten Paradebaus...

Einmal hab ich vom Balkon einen Opa mit seinem Enkerl belauscht, die gerade am Karl-Marx-Hof entlang gingen. Auf die Frage, warum die Anlage Karl-Marx-Hof heiße, antwortete der Opa: „Da Karl Marx war der Heilige von die Roten, und darum heißt’s da auch Heiligenstadt.“ (Zitat aus „Der Karl-Marx-Hof“ von Susanne Reppé, Picus Verlag).Im Herbst 2000 wird 70 Jahre Karl-Marx-Hof gefeiert. „Mit Ringlgschbüü, Bloskabbön und Buagamasta“, spricht eine alte Gemeindebaumieterin ihre Erwartungen aus. Gut möglich, daß sich das wirkliche Geburtstagsfest nicht in diesem Lustbarkeits-Trio erschöpft. Weil die Geschichte des Karl-Marx-Hofes bis heute Stoff für Polemiken, Kontroversen, Vorurteilen und uneindeutigen Bewertungen ist, und weil es sich aufdrängt, den „Superblock“ und alle seine historischen, politischen und architektonischen Aspekte von den verschiedensten Seiten her zu begreifen, sind nach, neben und vor der Häuplrede auch spannende Jubiläumsveranstaltungen vorstellbar.

Die Geschichte des Wohngefühls könnte ein Thema sein: Widerspieglt(e) der Umstand, daß man d e n Paradebau des Roten Wien bezog, sich im Bewußtsein der Wohnenden? Kompensierte das (imaginäre?) Privileg, im Karl-Marx-Hof zu wohnen, die doch relativ beengten Wohnverhältnisse (die durchschnittlichen Wohnungen waren 45 Quadratmeter groß, in ihnen lebten Familien, die im Schnitt doppelt so groß waren wie die heutigen Familien)? Fühlte man sich als Karl-Marx-Hof-Bewohner als Teil einer Elite? Was bedeutet es heute, in einem Vorzeigeobjekt zu wohnen, das zwar nicht ganz so Tourismusmagnet wie das Hundertwasserhaus, aber doch immer wieder von Wienbesuchern umschwärmt ist? Wie lebt man in einem Denkmal?

Die Antworten darauf sind so unterschiedlich wie die aktuellen Mieter. Kurt Treml, Mieterobmann, wohnt seit 70 Jahren im Karl-Marx-Hof. Nein, sagt er, er glaube nicht, daß die ersten Bewohner es als eine „Ehre“ empfunden hätten, im berühmtesten der proletarischen Paläste zu wohnen. „Das war ihnen eher wurscht“, meint Herr Treml. „Ihnen war vor allem wichtig, daß sie in eine menschenwürdige Wohnung kamen“.

Es stimmt, das Ausmaß der Standardwohnungen (heute ist ein Teil von ihnen zusammengelegt) war relativ bescheiden. Aber im Vergleich zu den Löchern, die die neuen Gemeindebaumieter hinter sich ließen, gab es im Karl-Marx-Hof Traumbedingungen. In Susanne Reppés Buch über den Karl-Marx-Hof gibt es viele Angaben zur Wohnungsnot in Wien nach dem Ersten Weltkrieg. 1919 hatten nur 85 Prozent der Wohnungen eine Küche. 92 Prozent aller Wohnungen hatten das Klosett am Gang. 95 Prozent hatten die Wasserleitung am Gang. Nur sieben Prozent hatten elektrisches Licht. Da der Baugrund bis auf 15 Prozent verbaut wurde, gab es keine Höfe, in denen die Kinder spielen konnten. Die durchschnittliche Miete einer Arbeiterwohnung war höher als der Wochenlohn eines unqualifizierten Hilfsarbeiters, daher waren viele Familien gezwungen, zusätzlich „Bettgeher“ aufzunehmen. In den Arbeiterfamilien hatte die Hälfte der Menschen kein eigenes Bett. Daß sich „Zimmer-Küche-Kabinett“ das Arbeiterehepaar, drei Kinder und ein Bettgeher teilten, war die Regel.

(Zwiti) Gäb’s an Aufstand? Gäb’s kan?

In der „revolutionären“ Phase des Karl-Marx-Hofes, bis 1934, war Kurt Treml ein Gschrapp im Vorschulalter. Die Frage, ob die Karl-Marx-Hof-Adresse als besonders ehrenhafte Adresse galt, oder ob im Bewußtsein der ersten Mieter Gemeindebau gleich Gemeindebau war, müßte man also an ältere Zeitzeugen richten. Gesichert ist: Heute stellt Herr Treml einen stolzen Karl-Marx-Hof-Mieter dar. Herr Treml i s t der Karl-Marx-Hof: Diesen Eindruck gewinnt man, wenn er über seine Funktion als profaner Beichtvater des Gemeindebaus erzählt und über seinen Kampf dafür, daß die Mieten auch nach der Generalsanierung Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre erträglich blieben.

„Da gäb’s an Aufstand“, sagt Kurt Treml auf die Frage, was passieren würde, wenn demnächst eine bürgerliche Rathausmehrheit auf den Gedanken käme, den roten Superblock umzubenennen (zum Beispiel in „Heiligenstädter Hof“, wie er schon in der Nazizeit hieß). Für wie viele Mieter wäre die Sache wirklich einen Aufstand wert? Wir werden es hoffentlich nie wissen können.

Einer wäre beim Aufstand gern dabei. Der Künstler Kurt Neuhold wohnt seit Beginn der 80er Jahre im Karl-Marx-Hof. Zunächst kokettierte er bloß mit der Adresse: Was kann einem jungen Linken besseres passieren, als mit Karl Marx zu sein? Später, sagt Neuhold, habe er begonnen, sich auf den Karl-Marx-Hof – als Nachbar, als politisch denkender Mensch, als Künstler – einzulassen. Doch das Verhältnis bleibt mehrfach gebrochen. Er blieb am Rande des „Dorfes“ (und der „dörflichen Intrigen“, wie er die verzichtbaren Verdichtungen des sozialen Zusammenlebens im Gemeindebau nennt), und er bewahrt die liebevolle Distanz, die nötig ist, um die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten der Sozial- und Architekturgeschichte des Karl-Marx-Hofes wahrzunehmen.

Zum Zweischneidigen Ja sagen und Mehrfachdeutungen zulassen. Dazu soll auch die Ausstellung in der ehemaligen Wäscherei des Karl-Marx-Hofes anregen, die Kurt Neuhold gestaltete (und, weil sie als work in progress konzipiert ist, weiter gestalten wird). Ein Abschnitt über die „Arisierungen“ von Gemeindewohnungen am Beispiel des Karl-Marx-Hofes – um ein solches Thema hätten Ausstellungsgestalter bei früheren Jubiläen einen weiten Bogen gemacht – führten bald zu jenen erregten Debatten, die Neuhold im Grunde seines Herzens liebt. Aber auch andere Bereiche der Ausstellung sollen Nachdenkimpulse liefern. Wenn Neuhold die Nachbarschaft einlädt, Gegenstände aus der Geschichte des Wohnens im Gemeindebau zur Verfügung zu stellen, um die Ausstellung wachsen zu lassen, so schwebt ihm als Endzustand das Gegenteil eines herkömmlichen „Heimatmuseums“ vor. „Das alte Stück ist willkommen, wenn es Zusammenhänge sichtbar macht und wenn von ihm aus der Versuch gemacht werden kann, das Jetzt begreifbar zu machen“.

(Zwiti) Singen in den Wohnungen verboten

Ein „Heimatmuseum“ schweigt und ist tot und leer, auch wenn es noch so voll mit alten Stücken ist. Doch wenn ein Mieter, wie kürzlich geschehen, den Gemeindebau-Aushang „Verhütung von Ruhestörungen“ aus dem Jahre 1947 in die Ausstellung bringt, dann sorgt der Künstler dafür, daß Fragen auftauchen. Und daraufhin vielleicht auch Antworten, die nicht ganz zu Nettiquette von Jubiläumsfeiern passen.

„Lärmende Spiele“ sind in der „ganzen Hofanlage“ (also auch in den großräumigen grünen Höfen!) verboten; „die Eltern haben die Pflicht, in dieser Hinsicht auf die Kinder erziehlich einzuwirken“; „nach 22 Uhr ist das Singen in den Mieträumen verboten“ – was sagt uns diese Obrigkeitssprache der 50 Jahre alten Karl-Marx-Hof-Hausordnung, gegenübergestellt der Revolutions- und Freiheitsrhetorik der Karl-Marx-Hof-Erbauer? War das Rote Wien gleichzeitig eine vorweggenommene Freiheitsutopie und eine Erziehungsanstalt für Untergebenenmentalität?

Kurt Treml gehört nicht einer Generation an, die sich durch solche Fragen aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Erstens, sagt er, handle es sich hier um eine Hausordnung aus dem Jahre 1947, atme also den autoritären Geist von Austrofaschismus und Nazifaschismus. Aus den roten 30er Jahren könne er sich an derartige Reglementierungsversuche nicht erinnern; er selbst habe als Kind die übliche Freiheit des Kindes genossen. Zweitens, sagt er, gibt es auch heute Verbote, aber jeder wisse, daß jene, die für deren Einhaltung verantwortlich seien, auch wegschauen können.

Ein vergilbter, 50 Jahre alter Papierzettel reizt zum Denken an, vielleicht sogar zum dialektischen. Ein Glücksfall. Kurt Neuholds Ausstellungskonzept (zu dem sich später ein Veranstaltungskonzept gesellen wird) ist offen genug, um weitere Glücksfälle zu generieren. Für den (zuagrasten) Künstler ist diese sehr aktive Art von Auseinandersetzung mit lokaler Geschichte die optimale Form, im Stadtteil persönlich Wurzeln zu schlagen. Auf ähnliche Weise gelingt ihm das auf der anderen Seite des Donaukanals mit seinem Gaußplatzprojekt.

Wir gehen durch den Durchfahrtsbogen im Mitteltrakt des Karl-Marx-Hofes, der den 12. Februar-Platz mit dem Heiligenstädter Bahnhofsgebäude verbindet. Man hat nicht den Eindruck, daß es einem die Stimmung hebt, wenn man dieses Gewölbe passiert. Doch man hat bei Susanne Reppé gelesen, wann es Stimmung gab: damals jeden Sonntag nämlich, wenn auf der Hohen Warte die Vienna kickte und bis zu 40.000 Menschen, vom S-Bahnhof zum Fußballplatz unterwegs, durch die Bögen zogen, die damit zu Triumphbögen des Wiener Proletariats wurden. Und sie wurden nicht zufällig zu solchen. Die Planer hatten sich bewußt diesen Umstand zunutze gemacht, um die dominierende Wirkung des Bogens zu unterstreichen. „Was sagt uns das?“, meint Neuhold. „Die Kritiker haben recht, wenn sie vorwerfen, der Karl-Marx-Hof sei Mißbrauch der Architektur für politische Propaganda. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der Karl-Marx-Hof war vor allem Ausdruck einer sozialen Utopie: Paläste für jene Klasse, für die es bisher nur Hütten gab.“

Im Herbst geh‘ ich zu einem Vienna-Heimspiel. Durch den Triumphbogen werde ich bewußter als je gehen. Die Hoffnung, daß noch einmal ein Versuch gestartet wird, eine große Zukunft für die Entwürdigten zu erringen, wird mich schweben lassen. Dann wird mich die Vienna auf den Boden herunter holen. Die anderen 179 Matchbesucher werden immer schon auf dem Boden gewesen sein.


Die Karl-Marx-Hof-Ausstellung in der ehemaligen Wäscherei der Gemeindebauanlage (Eingang Halteraustraße) ist jeden Dienstag von 17 bis 19 Uhr und am zweiten Sonntag jedes Monats von 10 bis 12 Uhr geöffnet.

Ausstellungsgestalter Kurt Neuhold bittet um Dokumente, Fotos oder Gegenstände, die einen Bezug zur Geschichte des Karl-Marx-Hofes haben. Kontakt: Tel. 01/ 31 88 940.

Das Buch zur Ausstellung („Der Karl-Marx-Hof“ von Susanne Reppé) ist im Picus Verlag Wien erschienen und kostet xxx Schilling.

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