Karl Marx im Bienenstocktun & lassen

Revolution in Wien

Im Spätsommer 1848 herrschte in Wien Revolution. In der Stadt wurde heftig diskutiert und um Positionen gerungen. Einen besseren Zeitpunkt hätte sich Karl Marx nicht aussuchen können, um nach Wien zu reisen. Eine Spurensuche von Gernot Trausmuth (Text) und Christopher Glanzl (Fotos).

Im Ankunftsbereich des sechsgleisigen Nordbahnhofs raucht es aus dem Schlot der Dampflok, und das Zischen der Stangen und Zylinder macht noch einen ohrenbetäubenden Lärm, als der 30-jährige Karl Marx am Abend des 27. August aus dem Zug steigt. 31 Stunden zuvor war er in Berlin aufgebrochen, um nun auch in der österreichischen Hauptstadt Kontakt zu revolutionären Kreisen knüpfen zu können. Bei seiner Ankunft erfährt Marx vom Massaker an Arbeiter_innen, das sich vier Tage zuvor in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof zugetragen hatte. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hatten spontan gegen die von der Regierung erlassenen Lohnkürzungen protestiert und wurden von der Nationalgarde brutal angegriffen. Am Praterstern, in der Stadtgutgasse und beim Vergnügungstempel Universum (dem Gelände des späteren Nordwestbahnhofs) wurde Blut vergossen.

Die höchste Gewalt.

Dieses Blutbad sorgte für heftige Diskussionen über die Perspektiven der Revolution. Die für den 28. August geplante Sitzung des Demokratischen Vereins war der richtige Ort, um die Debatte zu einem Punkt zu bringen. Der Verein tagte im Gasthaus Zum Engeländer in der Währinger Straße 30. Kaum zu glauben, dass in dem heute stinknormalen Wirtschaftsgebäude einst die hellsten Köpfe Wiens zusammensaßen und Marx hier den linken Demokrat_innen seiner Zeit einen neuen Blick auf die Revolution und ihre Rolle zu geben versuchte.

Mit seiner stämmigen Statur, seinem vollen, schwarzen Haar und seinem Vollbart ist er schon rein äußerlich eine Erscheinung. Sein Auftreten ist selbstbewusst, böse Zungen nennen ihn arrogant. Für ihn war die «Praterschlacht» der eindeutige Beweis, dass auch in Wien das Schicksal der Revolution vom Ausgang des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie abhängen würde. Die heftig diskutierte Frage, ob man vom Kaiser oder vom Parlament die Absetzung der politisch Verantwortlichen für das Massaker fordern sollte, lehnte er in dieser Form ab. In der hitzigen Debatte erklärte er, dass das Volk die höchste Gewalt in der Gesellschaft sei, und sein Wille entscheidend sein müsse. Zeitungsberichten zufolge konnte Marx mit seinen Ansichten die Mehrheit im Saal mit seiner «geistvollen, scharfen und belehrenden Rede» überzeugen.

Arbeiterverein.

Das geistige Leben war nach den Jahrzehnten der Vormärz’schen Zensur, die Österreich zum «China Europas» gemacht hatte, durch die Revolution aufgeblüht. Die im März erkämpfte Meinungsfreiheit wurde in vollen Zügen ausgelebt. Die Anwesenheit eines Denkers wie Marx mit seinen revolutionären Ideen musste unter diesen Umständen ein gewaltiges Interesse auslösen, auch wenn seine wahren Ansichten bis dahin kaum bekannt waren. Das 1848 erschienene Kommunistische Manifest war bis dahin nachweislich nur vom österreichischen Gesandten in London erstanden worden.

Die Möglichkeit zu einem weiteren Auftritt ergab sich am 30. August im Theater in der Josefstadt, wo der Erste Allgemeine Arbeiterverein seine Versammlungen abhalten konnte. Wo einst Strauß und Lanner dirigierten und heute vor den Vorstellungen elegantes Theaterpublikum zusammentrifft, lauschten 1848 jeden Mittwoch und Samstag wissbegierige Handwerksgesell_innen und Arbeitslose nach dem Motto «Wissen ist Macht» den Vorträgen gelehrter Demokrat_innen. 600 Mitglieder zählte der im Juni gegründete Verein, die stolz das Vereins­emblem, den Bienenstock, am Revers trugen. Die dicht bestuhlten Sträußelsäle waren bis auf den letzten Platz gefüllt, als «Dr. Marks» über die Lage der Arbeiterbewegung in Europa sprach. Vor allem anhand der Entwicklung der Revolution in Frankreich versuchte Marx den Wiener Arbeiter_innen aufzuzeigen, dass sie die führende Rolle in der Revolution übernehmen müssen.

Klassengegensatz.

Am Samstag, dem 2. September, verwandelte sich der große Saal des renommierten Vorstadttheaters durch das emsige Treiben der Proletarier_innen aus Fünfhaus, Sechshaus oder Wieden erneut in eine Art Bienenstock. Friedrich Sander, der Gründer des Vereins, hatte Marx abermals eingeladen. Im Gepäck hatte dieser den Vortrag «Lohnarbeit und Kapital», der ihm für das Wiener Publikum passend schien. Erstmals war in Österreich die Idee zu hören, dass es zwischen Arbeit und Kapital einen grundlegenden Interessensgegensatz gibt, der daraus folgt, dass die Arbeiter_innen ihre Arbeit(skraft) verkaufen und mit ihrer Arbeit Werte schaffen, die sich die Kapitalist_innen aneignen.

Der Vortrag und die anschließenden Diskussionen hatten wohl Wirkung gezeigt. Im Laufe von Marx‘ Aufenthalt in Wien änderte der Arbeiterverein tatsächlich seine Linie und forderte nun die Einberufung eines Arbeiterparlaments, zu dem alle Branchen ihre gewählten Vertreter entsenden sollten. Dieser Ausschuss sollte über folgende Forderungen beraten: politische Gleichstellung der Arbeiter_innen, Verkürzung der Arbeitszeit, Einführung einer Krankenversicherung und das Recht auf freie Niederlassung. Hier sind erstmals die programmatischen Grundzüge der späteren Sozialdemokratie festgelegt worden.

Revolutionäre Praxis.

Am 3. September versammelten sich am Schottentor Tausende zur gemeinsamen Leichenfeier für die Toten vom 23. August. Die Regierung fürchtete eine neuerliche Machtdemonstration der revolutionären Vereine, die die Gefallenen der Proteste zu Märtyrern des Kampfes um die «soziale Demokratie» erheben könnten. Die von Marx propagierte Idee, alle fortschrittlichen Kräfte sollten eine Einheit bilden und gemeinsam die Revolution vorantreiben, nahm während seines Wien-Aufenthalts erstmals konkrete Form an. Das Begräbnis entsprach genau diesem Konzept. Vom Demokratischen Verein über den neu gegründeten Demokratischen Frauenverein, vom Arbeiterverein bis zur Akademischen Legion, der bewaffneten Einheit der Studentenschaft, die mit ihrer Radikalität die Aula zu einem Zentrum der Revolution machte, war alles anwesend. Ein beeindruckender, disziplinierter Demonstrationszug marschierte über die Währinger Straße zum Währinger Friedhof, wo mit großem Pathos der Kampf um die Freiheit beschworen wurde. Auch für Marx muss dies ein großes Erlebnis gewesen sein.

Es blieb nicht die einzige Massenkundgebung, an der Marx in Wien teilnehmen sollte. Am 6. September, dem Abend vor seiner Abreise, nahmen 20.000 Menschen am Fackelzug für den tschechischen Reichsratsabgeordneten Alois Borrosch teil. Vom Stephansplatz zog die Menge zur «Ungarischen Krone» in der Himmelpfortgasse, wo der beliebte Parlamentarier wohnte. Borrosch forderte eine vollständige Volksherrschaft und war neben Hans Kudlich die treibende Kraft hinter der Bauernbefreiung. Die ­reaktionäre Presse sah in ihm «das ekelhafte Scheusal, Kommunismus genannt». Karl Marx traf Borrosch und diskutierte mit ihm u. a. über den Nationalitätenstreit zwischen Deutschen und Tschechen. Borrosch soll Marx geantwortet haben: «… sowie die Arbeiter in die Bewegung eintreten, da hört der auf; (…) da halten alle zusammen.»

Karl Marx war nur kurz in Wien, doch seine Anstöße halfen der jungen Arbeiterbewegung, die ersten Schritte zu gehen. An den Orten, wo er nachweislich auftrat, erinnert nichts mehr an sein Wirken im Sturmjahr 1848. Das heurige Gedenkjahr wäre ein guter Anlass, dies zu ändern.

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