Kein Makel Manko MinusDichter Innenteil

Dinosaurierin mit Freundin (Illustration: © Jella Jost)

Cherchez la Femme (03/2023)

Wäre ich alt – älter als ich mich fühle – und hätte keinen Spiegel, wüsste ich nicht, was alt bedeutet. Ich weiß, die Zeit vergeht. Ich weiß, nach Sonne folgt Mond, nach Winter Frühling. Ich weiß, meine Eltern sind nicht mehr. Das weiß ich genau. Es ist von ihnen nur mehr eine Tabakspfeife, eine 70er-Jahre-Brille mit Stahlrand, ein Diamantring und eine lange Perlenkette übrig. Das hat sie geschmückt. Das hat sie schön gemacht, ihnen Freude gegeben. Ich weiß, meine Kraft wird schon deutlich weniger. Das muss mir niemand sagen. Das spüre ich selbst. Ich weiß, meine Haut ist so weich, so angenehm weich geworden in letzter Zeit. Ist das schon alt? Auch fehlen mir Zähne. Hätte ich einen Spiegel, könnte ich es sehen. Ich weiß es von den anderen. Sie erwidern mein Lächeln. Ein Lächeln, das mir der Zahnarzt gibt. Gegen Geld. Hätte ich den Spiegel in der Hand, würde ich mich nicht wiedererkennen. Ich habe das Bild von mir in mir und mit mir kreiert. Ich habe es in mir gezeichnet, und so bleibt es bis in alle Ewigkeit. Es gibt Menschen, die haben mir beim Zeichnen geholfen. Die Spuren trage ich im Gesicht und an meinem Körper. Oft war er hart und steif vor Angst und Wut. Er wird jetzt wieder nachgiebiger und zart. Ich weiß nicht, was ich über den Tod denken soll, kenne ihn nur als Bild, als Mythos. Manchmal liegen real auch Leblose da, wie meine Mutter. Aber da ist der Tod schon längst verschwunden. Verflüchtigt hat er sich, davongemacht hat er sich, davongeschlichen. Überhaupt schleicht er ja gerne. Man darf ihn nicht sehen. Davor fürchten sich die Menschen. Oder sie ekeln sich. Er riecht ja gar nicht gut. Und oft hört man ihn in der Nacht jammern, säuseln, kriechen, schaben, peinigen. Die Angst und der Tod müssen Geschwister sein. Eine unendliche Liebe. Da ist sie wieder – die Liebe. Die Vorstellung eines liebevollen Todes kommt fast einem Sakrileg gleich, einer Verhöhnung der Würde von unzähligen Trilliarden von Menschen, deren Spuren in die Erde sickern.

Spieglein, Spieglein, zerbrochen
an der Wand
Es lugt der Tod vom Nebenzimmer
In das spitze Glas
Ich ahne seinen Blick
Er reicht mir seine Hand

Spieglein, Spieglein, bin nicht alt
Nehme zornig deine Scherbe
Zerschlitz’ des Gevatters G’wand
Nun steht er da der Tod
So wie er ist: nackt und kalt

Jetzt sehe ich ihn
Ich sehe ihn klar
Auch er hat Angst, wie wunderbar
Er mag die Rolle nicht, die wir
ihm geben
Denn er ist ungeliebt

Den Tod zu lieben
Wäre das ohne jedwede Pietät?
Die Ärzte werten das als Depression
Doch Liebe ist das Gegenteil
Sie bildet einzigartige Blüten aus
der Obsession

Der Tod entzieht sich
Er ist nicht der, der er erscheint
Beschämt spielt er den Schatten hinter uns
Steht nie im Rampenlicht
Und wir – wir sehen ihn nicht

Vertraut sind die Menschen so gar nicht mit dem Alter. Da wird verringert, vermindert, verkleinert, verabschiedet, verallgemeinert, verunstaltet, verunmöglicht, verabscheut, verurteilt, verleugnet, verdorben, verdroschen, verkannt, verlassen, vermieden, verloren, verstoßen und vergessen! Man liest über Alte, über Mangel, Armut, Hilflosigkeit. Ist eine auf Makel, Manko, Minus ausgerichtete Berichterstattung alles, darf das alles sein. Nein, ich bin mir sicher. Nein. Die Frauen, die lange und viel gearbeitet haben, und es selbst im Alter weiter tun, werden festgezurrt an den Marterpfahl eines Leidens, das uns wieder einmal zugeschrieben wird, ein politisch konstruiertes Leiden, auf das es hinauslaufen soll und wird, nachdem Frauen jede Wertschätzung ihrer jahrzehntelangen häuslichen Arbeit und ihrer Erwerbsarbeit auch im 21. Jahrhundert entbehren. Man bezichtigt uns alte Frauen auch des miesen Aussehens, unerträglicher Falten, die da beginnen zu hängen und die den Betrachter*innen den Tag vermiesen können, nicht wahr, dass sie so etwas ansehen müssen, eine Zumutung, als alter Mensch am Leben teilhaben zu wollen! Am liebsten würde man uns Alte in chirurgische Zwänge drängen, «aging-shaming», die Alten werden als hässlich gebrandmarkt, man übt auf Personen des öffentlichen Lebens Druck aus. Aber, bei Gott, wir sind nicht blöd.

 

Alt-Sein ist keine Kategorie

Altern darf schön sein, ja es darf ein Zustand von Glück und Freiheit sein. Alt-Sein ist nicht der Moment, den die Politik bestimmt, weil wir mit 62 oder 63 Jahren in Pension gehen dürfen. Das ist so was von absurd und lachhaft. Das Patriarchat versucht, sich mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Mir brennt das Herz, ich brauche positive Affirmationen von Alter. Wer berichtet über 65-Jährige, 70-Jährige, die nach wie vor ihre Frau stehen in Betrieben, ob als Juristinnen, als Ärztinnen, als Putzfrauen, als Unternehmerinnen, wie meine Kusine. Sie ist eine davon. Ich bin eine davon. Meine Nachbarin ist eine davon. Meine Freundin, Literatin, ist eine davon. Es sind Frauen, Arbeitende, Professionals, Erfahrene, Mächtige, Befreite, Reiche und Arme. Ich höre schon das Lachen der Unterminierung, das blöde Grinsen des falschen Mitleids, die aggressive Respektlosigkeit, mit der wir konfrontiert sind. Alt-Sein ist keine Kategorie. Alt-Sein ist ein Vorgang, langsam, schroff und zart zugleich, der mich überholt und unerwartet vor mir steht. Wenn ich es dann verstehe und annehme. Warum bloß wird nur so ein Theater darum gemacht? Weil der Staat sich aus der Verantwortung ziehen möchte. Weil die Leute lieber die Augen verschließen, als hinzusehen und zu kapieren, dass ein Miteinander Freude bringen kann. Beginnt das Alt-Sein, wenn man es uns ansieht? Pardon? Entschuldigung für mein Aussehen. Verzeihen Sie die Hängebacke, die einst mein schönes Lächeln straffend begleitete. Pardon, dass ich Mensch bin. Tut mir so leid, dass ich nicht mehr fuckable aussehe für Sie, echt. Weil die Uhr auf Pensionierung steht. Weil die Arbeitskraft nachlässt. Die Arbeitgeber aber wollen viel Kraft für wenig Geld. Sie wollen den totalen Einsatz. Egal, ob du dabei vor die Hunde gehst. Das muss sich ändern. Das ändert sich. Die Jungen rebellieren. Hoffentlich wirklich. Aber die Kompromisse warten auf der Türschwelle und wollen uns einreden, dass wir nicht genug wären. Wir sind dann fast wie jene Hühner, die man aktuell in den Schlachthöfen mit Füßen gegen die Wand tritt. Es ist dasselbe Prinzip einer unfassbar lieblosen Welt, in der wir existieren und altern müssen. Aber, bei Gott, wir Menschen mit vielen Jahren am Buckel sind nicht blöd.

 

Alter. Eine Sache der Perspektive

Ich recherchiere und komme zu www.vielfalten.com – hier wird das bestätigt, was viele bereits wissen: Das Wissen in der Gesellschafft um die Alterungsprozesse hat enormen Nachholbedarf. Denn Alter ist ein Konstrukt. Die Alternswissenschaftlerin und Altenpflegeexpertin Sonja Schiff schreibt dort: Jeder Mensch konstruiert sein Bild von Alter. Dabei werden gesellschaftlich ­bekannte Alltagstheorien wie «alt ist gleich krank» mit den eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in Verbindung gebracht. Die persönliche Konstruktion des eigenen Alters hängt eng zusammen mit persönlichen Vorbildern fürs Alter. Von Pflegekräften der Altenpflege wissen wir, dass sie oftmals ein sehr negatives Altersbild haben. Eine 55-jährige Nachbarin, die lange Jahre ihre an Demenz erkrankte Großmutter gepflegt hatte, erzählte mir von ihrer plötzlichen Vergesslichkeit und meinte: «Meine Güte, jetzt werde ich alt. Alzheimer lässt grüßen.» Als ich ihr erklärte, dass ihre Vergesslichkeit auch hormonell bedingt sein könnte und eventuell mit den Wechseljahren zu tun haben könnte, war sie fast sprachlos. Ich selbst ­empfinde die Entwicklung von Tugenden – die wir am Rand des evolutionären Weges liegen ließen – jenseits von Religionen, als menschheitserhaltend. Die Entwicklungen am technologischen Sektor, in der Medizin, in der Elektronik sind bahnbrechend. Es ist fraglich, ob wir diese Riesensprünge auch in unseren Herzen und unserem Geist vollziehen können. Möglicherweise hilft uns da AI. Who the fuck knows.