«Keine Bettler-Mafia»vorstadt

Lokalmatador Nr. 330

Teresa Wailzer weiß mehr. Weil sie nicht über, sondern mit den Schwächsten der Stadt redet.

Foto: Mario Lang

Wien 2, U-Bahn-Station Taborstraße, 8.59 Uhr: W. spricht einen etwa 25-jährigen Bettler und seine noch minderjährige Begleiterin an. Die drei Personen unterhalten sich vertraulich, gehen dann gemeinsam in Richtung Augarten. Nach hieramtlichen Ermittlungen liegt eindeutig der Tatbestand des organisierten Bettelns vor.

Zu dieser Auffassung könnte man gelangen. Das in Wien geltende Bettlergesetz und das gängige Klischee würde den hieramtlichen Ermittler_innen Recht geben.

Ihr Problem: W. ist keine Patin in einem kriminellen System. Sie ist vielmehr Sozialarbeiterin und Sozialwissenschafterin an der Universität Wien. Teresa Wailzer ist in ihrer Diplomarbeit der Frage nachgegangen, ob in Wien tatsächlich die viel zitierte Bettler-Mafia ihr Unwesen treibt. Sie engagiert sich auch in dem Verein «Goldenes Wiener-Herz», dessen Mitglieder bettelnde Menschen als Promotor_innen und Botschafter_innen angestellt haben.

Wailzer traute nicht der Krawallpolitik und nicht dem Krawalljournalismus, auch nicht den Ermittlungen der Polizei. Sie spricht fließend Rumänisch. Deshalb versteht sie auch die Sorgen und Hoffnungen jener Menschen, die sonst keine Stimme haben und daher auch nicht das Recht in einer der reichsten Städte der Welt für sich in Anspruch nehmen können.

«Es gibt keine Bettler-Mafia in Wien», widerspricht die Forscherin der Polizei. Sie hat mit zig Menschen gesprochen, zehn lange Interviews ohne Aufnahmegerät und fünf sehr lange Interviews mit Aufnahmegerät geführt. Ihr Resümee: «Es ist vielmehr so, dass sich bettelnde Menschen zusammentun, um in Wien den nächsten Tag zu überleben.» Keine Papiere, kein geregeltes Einkommen, sündteure Mieten in Elendsquartieren, keine Windeln für die Kinder, kein Zuhause, keine Heimat mehr. Man versetze sich nur selbst in ihre Lage.

Kurz ausruhen im Augarten! Salmin und Laura erzählen, dass sie in einem Roma-Dorf in Rumänien aufgewachsen sind, nördlich von Bukarest. Früher arbeitete das ganze Dorf für den großen Autohersteller. Heute hat der große Autohersteller keine Arbeit mehr für die Dorfbewohner_innen. Keine Arbeit, kein Geld, keine Perspektive. Viele aus ihrem Dorf sind fort, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Es ist kein Zufall, dass die jungen Hilfesuchenden in Teresa Wailzer eine gute Zuhörerin und Helferin gefunden haben. Sie ist in Hernals aufgewachsen. Ihre Mutter ist Gymnasiallehrerin für Geschichte und Religion. Ihr Vater hat eine Gemüsekonservenerzeugung von seinem Vater übernommen. In ihrer Familie gilt ebenso, was in den Familien der Bettler_innen gilt: «Man ist füreinander da, und vor allem hilft man den Schwächeren.»

Der Humanismus ihrer Mutter («sie engagiert sich auch in der Kirche») und die Hilfsbereitschaft ihres Vaters («er ist da, wenn wer was braucht») haben ihre zwei Jahre jüngere Schwester und sie geprägt. Leicht haben es die Wailzers auch nicht gehabt: «Der Urgroßvater hat die Konserven noch mit Hundeschlitten ausgeliefert, der Großvater mit Pferden.» Und ihr Vater konnte das Familienunternehmen erfolgreich weiterbetreiben. In einer Zeit, in der es zwar längst Autos gab, aber auch diese Branche zunehmend unter die Räder der Konzerne kam.

Früh habe sie gelernt, mitanzupacken und Verantwortung zu übernehmen: «Obwohl mich meine Eltern nie dazu gezwungen haben.» Nach der Matura ging Teresa Wailzer für sieben Monate nach Honduras, um bei den Salesianerinnen des Don-Bosco-Ordens mitzuarbeiten. «Ich habe den Kindern Nachhilfe in Englisch und Informatik gegeben.»

Die Erfahrungen in der für sie neuen Welt haben sie zusätzlich reifen lassen: «Mich hat damals beeindruckt, wie die Schwestern die Armut und die Kriminalität rund um sich als gegeben akzeptiert haben, und wie sie dennoch versucht haben, die Probleme mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu lösen. Manchmal reicht es auch, wenn man einfach nur da ist und zuhört.»

So wie jetzt im Augarten. Salmin und Laura waren mit ihr schon öfters in der Stadt unterwegs, um die Menschen auf ihre persönliche Situation aufmerksam zu machen. Wien hat im Jahr 2010 als erstes Bundesland ein gewerbsmäßiges Bettelverbot eingeführt. Als gewerbsmäßig gilt, wenn das Betteln als fortlaufende Einnahmequelle dient.

Für die Forscherin sind Salmin und Laura inzwischen weit mehr als Studienobjekte bzw. Kurzzeit-Angestellte des Vereins. Sie sagt nicht anklagend, mehr dankbar, dass sie studieren, reisen und über den eigenen Tellerrand blicken konnte: «Es ist traurig, dass auf den Menschen ein enormer Leistungsdruck lastet und dass viele das Gefühl haben, dass sie zunächst einmal auf sich selbst schauen müssen. Für mich wäre so eine Haltung ziemlich schlimm, weil man da sehr viel von der Welt, in der wir leben, ausblenden müsste.»

Sagt es und lächelt wieder ihren beiden Freunden zu. «Man muss sich vor ihnen nicht fürchten. Ich habe eher Respekt vor ihnen, weil sie einem unglaublichen Stress ausgesetzt sind, nur wenig haben, und weil sie echte Überlebenskünstler sind.» Nicht zu vergessen: Nach hieramtlichen Ermittlungen liegt eindeutig der Tatbestand des organisierten Bettelns vor.

Info:

40 Lokalmatador_innen – in einem Buch: Dieses Kompendium ist noch im Augustin-Büro und bei Ihrem_Ihrer Kolporteur_in erhältlich. Es kostet: € 8,-.

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