Keine Decke, keinen Polster, keinen Schranktun & lassen

Budapest für alle. Jutka Lakatosné engagiert sich in der Budapester Gruppe Die Stadt gehört allen. Mit ­­­Lisa Bolyos und Katinka Czigány sprach die Aktivistin über die ­Bekämpfung von Wohnungslosen, wie man sich dagegen organisiert und was «Recht auf Wohnen» in der Praxis heißt. Illustration: Seda Demiriz

Jutka, du bist Teil von A Város Mindenkié (Die Stadt gehört allen). Was ist das für eine Gruppe?

A Város Mindenkié ist eine selbstorganisierte Gruppe aus Obdachlosen, von Wohnungsarmut Betroffenen und jungen Menschen aus der Mittelschicht mit höherer Bildung. Unser langfristiges Ziel ist die Durchsetzung des Rechts auf Wohnraum. Am Weg dorthin arbeiten wir an verschiedenen Kampagnen, etwa dafür, dass Familien mit Kindern nicht ohne Unterbringungsmaßnahmen zwangsdelogiert werden dürfen.
Die Gruppe gibt es in Ungarn seit neun Jahren. Unsere Arbeit ist wichtig, weil gerade die schutzbedürftigsten Menschen Interessens- und Rechtsgemeinschafen brauchen. Wir haben den Eindruck, dass der gegenwärtige Anstieg an Diskriminierung, Hassreden, Exklusion und Ignoranz die menschliche Würde, das Recht auf Freiheit, Leben und Sicherheit dieser Menschen verletzt. Die ungarischen Gesetze bevorzugen diejenigen, die schon genügend haben. Und dagegen müssen wir etwas tun.

Wie wurdest du zur Aktivistin?

Ich bin seit mehr als sieben Jahren bei A Város Mindenkié. Ich habe die Gruppe kennengelernt, als ich und mein Mann eines Tages von rassistischen Menschen auf der Straße geschlagen wurden. Antiziganismus ist in Ungarn sehr weit verbreitet. Mein Mann kommt aus einer Roma-Familie, noch dazu sind wir Obdachlose, und die haben gedacht, mit uns kann man alles machen. Und dann habe ich, obwohl in Ungarn eine Obdachlose quasi NIE gegen die Polizei gewinnen kann, in diesem Verfahren erreicht, dass die beteiligten Polizisten aus dem Dienst entlassen wurden. Damals habe ich mich dazu entschlossen, dass mein Platz in einer Gruppe ist, in der Menschen die Verletzung der Menschenrechte aufgrund ihres Gewissens nicht dulden. Ich arbeite hier, weil ich es als meine Verantwortung empfinde, schutzbedürftige Menschen zu verteidigen und sie dabei zu unterstützen, ihre Interessen und Rechte zu vertreten.
Wen adressiert ihr mit euren Forderungen?
Die jeweilige Regierung, momentan jene von Viktor Orbán, die Diskriminierungen ignoriert und nichts gegen Obdachlosigkeit und extreme Armut tut. Die aktuelle Regierung verbietet den sogenannten Akt des «gewöhnlichen Aufenthalts in öffentlichen Räumen» mit einem Ordnungswidrigkeitsgesetz und sanktioniert ihn mit Verwaltungshaft. Offiziell wird verbreitet, es stünden genügend Betten zur Verfügung, aber das ist eine Lüge: Auf rund 30.000 Obdachlose kommen rund 11.200 Übernachtungsplätze, die Unterkünfte sind überfüllt, in furchtbarem hygienischen Zustand, und in vielen Fällen sind die Menschen dort Gewalt ausgesetzt. Also heißt das Gesetz nichts anderes, als dass Menschen ins Gefängnis kommen, nur weil sie kein Dach über dem Kopf haben.
Und was dazukommt: Durch die Zwangsräumungen von jährlich drei- bis viertausend Familien produzieren Regierung und Regionalbehörden noch mehr Armut. Das Wohngeld und die Möglichkeit der Ratenzahlung wurden abgeschafft, Kinder werden im Fall von extremer Armut widerrechtlich von den Eltern getrennt und Erwachsene in die Obdachlosigkeit gedrängt.

Klingt sehr übel. Wie geht ihr vor?

Im Rahmen unserer Sensibilisierungsaktionen belagern wir leere Häuser. Wir organisieren friedliche bürgerliche Demonstrationen vor den Häusern von durch Zwangsräumung betroffenen Familien; wir bieten Schutz an, das heißt, wir begehen zivilen Ungehorsam. Und wenn wieder ein neues Gesetz gegen Minderheiten gemacht werden soll, besetzen wir auch die Räume der Behörden, um die Entscheidungsträger an ihrer unmenschlichen und rechtswidrigen Abstimmung zu hindern.
Unser Ziel ist, dass alle Menschen in Ungarn ein Zuhause haben, weil wir glauben, dass es nur dann ein sicheres Leben, die Möglichkeit zu arbeiten, Gesundheit und soziale Sicherheit geben kann. Unser Ziel ist, dass Familien nicht zerrissen werden, dass die Regierung wirkliche Hilfe für den Verbleib der Kinder in ihren Familien bietet, weil das den Kindern zusteht.
Wie kann man sich ein «Recht auf Wohnen» in der Praxis vorstellen?
Die Rate der Sozialwohnungen am gesamten Wohnsektor liegt bei nur zwei Prozent. 470.000 bis 500.000 Wohnungen stehen leer, und alle Wohnungen, die nicht für Wohnzwecke verwendet werden, sind von Steuerzahlungen befreit – während Menschen auf der Straße leben müssen. Die Regierung und die Behörden sollten dafür verantwortlich sein, dass Sozialwohnungen ihrem Zweck zugeführt werden: dass man nicht durch Korruption eine Wohnung bekommt, dass man die Wohnungen nicht als Restaurants oder Motels zweckentfremden darf, sondern dass bedürftige Familien darin wohnen können und noch mehr Wohnungen gebaut werden, die für Arme leistbar sind. Und dass Eigentumswohnungen, die dem Zweck der Spekulation dienen, besteuert werden.

Wie sieht die Situation der Armen und Wohnungslosen in Budapest aus? Wo übernachtet man, gibt es Anlaufstellen, Unterstützung, Essen?

In Ungarn gibt es unterschiedliche Versorgungssysteme für Obdachlose. Es gibt die staatliche Unterstützung, die nur die minimalsten Bedürfnisse befriedigt, auf Ungarisch nennen wir so etwas «fapad», also «Holzbank»: eine Übernachtungsmöglichkeit für eine Nacht. Du kannst am Abend rein, wenn es noch ein freies Bett gibt, und musst in der Früh weg. Es gibt keine Decke, keinen Polster, keinen Schrank für deine Sachen. Die musst du den ganzen Tag, zwölf bis fünfzehn Stunden mit dir herumschleppen, egal ob es regnet oder schneit oder sehr heiß ist.
Es gibt auch temporäre Unterbringungseinheiten, in denen man nach einer durchschnittlich sechs- bis siebenmonatigen Wartezeit einen Platz bekommen kann, aber nur, wenn man dafür zahlen kann. Die Kosten liegen zwischen 5.000 und 30.000 Forint (1.000 Forint entsprechen etwa 3 Euro, Anm.). Hier gibt es Bettwäsche, Wasch-, Koch-, und Bademöglichkeit, und du bekommst einen befristeten Vertrag. Wenn du den durchschnittlichen Mindestlohn von 54.220 HUF verdienst, 10.000 Forint für die Unterkunft und 10.000 Forint Kaution zahlst, die Monatskarte für die Öffis um 9.500 Forint kaufst, bleiben dir 24.000 Forint zum Leben übrig. Wenn du nicht genug Geld hast, musst du ausziehen, und der Teufelskreis beginnt von vorne.
Es gibt auch unterschiedliche religiöse Unterkünfte, aber auch die bieten keine langfristige und sichere Lösung. Essensausgaben gibt es sehr wenige. Nur manche Vereine dürfen Essen ausgeben, meistens ein Stück Brot mit Fett und ein Glas heißen Tee, oder eine kleine Portion Suppe – von Spenden finanziert. Viele Organisationen, viele großzügige Menschen haben sich bemüht zu helfen, aber die Behörden haben die Essensverteilung verboten, weil sie die extreme Armut beschämend fanden. Dass zwei- bis dreitausend Menschen für einen Teller Essen Schlange stehen, Kinder, Alte, einfach alle, war ein zu negatives Bild für den Tourismus in der Stadt. Heute gibt es die Budapest Bike Maffia und die Heti Betevő (Wöchentliches Brot), die Sandwiches mobil an verschiedenen Orten verteilen.
Nur an den wichtigsten Feiertagen, da kommen die Politiker selber auf die Straße, um Essen zu verteilen und in den Medien zu zeigen, wie großzügig sie sind.

Du hast Ungarn vor Orbán und wahrscheinlich auch noch vor der Wende gekannt. Was hat sich für Armutsbetroffene verändert?

Heute wird das Kádár-Regime «verflucht» und «verdammt» genannt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Personen es so bezeichnen, die damals Mitglieder und Anhänger_innen der Partei waren: Sekretäre des Ungarischen Kommunistischen Jugendverbands, Parteisekretäre usw. Was sie gern vergessen, ist, dass Lebenserhaltung und Einkommen damals abgesichert waren.
Alle Systeme haben ihre Fehler, so auch der Kommunismus in Ungarn – vor allem seine Gesetze muss man kritisieren. Aber es gab Arbeitsplätze, die Löhne haben Anpassungen erfahren, die Preise ebenso, es wurden Wohnhäuser gebaut, die Mieten waren günstig, es gab Arbeiter_innenunterkünfte. Davon kann heute keine Rede sein. Heute gibt es hunderttausende Familien ohne ausreichende Lebensmittel, es gibt hungrige Kinder und Pensionist_innen. Heute sind wir tatsächlich ein Land der Armen.

Was müsste sich in Ungarn verändern, damit weniger Leute verarmen?

Von Veränderung in Ungarn können wir erst reden, wenn sich sowohl die Mächtigen als auch alle anderen Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft um ein sichereres Leben aller bemühen. Das Leben wird sicherer, wenn das Recht auf Wohnen festgeschrieben ist; wenn die Anzahl der sozialen Mietwohnungen erhöht wird, wenn es mehr Arbeitsplätze gibt und Arbeit adäquat bezahlt wird. Diskriminierung von Roma, Juden, Obdachlosen, Migrant_innen, Leute mit diversen sexuellen Identitäten muss ein Ende haben. Aber solange die Mächtigen und ihre Anhängerschaft nur ihre eigenen Interessen im Blick haben, solange die Menschen gleichgültig sind und auf Diskriminierung und Bedrohung mit Schweigen reagieren, wird die Macht des jetzigen Regimes immer größer, und statt der Sicherheit wird nur die Armut wachsen.