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Europäische Theaternacht – einmal mehr mit einem Augustin-Beitrag

Wie groß ist der Anteil der Arbeiter_innen und  Arbeitslosen im Publikum des Wiener Burgtheaters oder einer der experimentellen Theatergruppen der freien Szene? Wenn die Überschreitung der Ein-Prozent-Marke die Voraussetzung für die Subventionierung aus öffentlichen Mitteln wäre, müsste wohl dem Staatstheater genauso wie dem Szenetheater die Förderung entzogen werden. Robert Sommer über einen Versuch, dem Theater neues Publikum zuzuführen: die Europäische Theaternacht am 19. November.

Foto: privat

Vielleicht war die Tatsache, dass Rebecca Eder vom «Verein Europäische Theaternacht» sofort für ein Interview am 26. Oktober zusagte, ein beredter Hinweis: Das Majestätische am österreichischen Nationalfeiertag ist relativ, wenn frau sich als eingefleischte Europäerin dünkt. Den «Tag der Fahne» könne man nicht sinnvoller verbringen, als darüber zu diskutieren, ob man die Institution des Theaters, die in einer Krise stecke, «demokratisieren» könne, meinte die diplomierte Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin nach dem Ende unseres Gesprächs. Wir können dem zustimmen; mit der Einschränkung, dass es auch andere Themen gäbe, die sich an einem 26. Oktober, abseits der Werktagshektik, gut diskutieren ließen. Zum Beispiel:

Wie schafft man die Nation ab?

Das Gespräch bewegte sich auf einem Feld, auf dem die sonst in der Gesellschaft grassierende Europa-Skepsis wenig Basis hat. Ihre Leidenschaftlichkeit im Vernetzen europäischer Theaterprojekte mit dem gemeinsamen Ziel, die Schwellenängste abzubauen, die «untere soziale Schichten» oder auch junge Menschen insgesamt von der Welt der darstellenden Kunst trennen, steht Rebecca Eder ins Gesicht geschrieben. In jedem Land drücke sich zum Beispiel die Krise der großen Häuser – wie in Wien die sogenannten Spielstätten der «Hochkultur» – in der sukzessiven Veralterung des Publikums aus. Insofern sei die heuer erstmals gelungene Einbeziehung des Burgtheaters in die Europäische Theaternacht ein Highlight.

Im Vestibül des Burgtheaters nimmt die Theaternacht die Form eines offenen Salons an: Zunächst ist «Theatersport» und Improvisationstheater angesagt, weiter geht es mit der hier schon traditionellen offenen Bühne (Spontanbeiträge herzlich willkommen). Am 19. November spielt das junge Noch-nicht-Publikum die Hauptrolle, verspricht die Ankündigung.

Hier wie an allem 70 österreichweiten Spielstätten der Theaternacht werde niemand weggewiesen, der kein Geld für den Eintritt habe. Es gilt der Grundsatz Pay as you can / pay as you wish. Diese Regelung hebe die Europäische Theaternacht (in Wien wird sie heuer zum fünften Mal veranstaltet) etwa von der heuer schon zum 13. Mal organisierten Hamburger Theaternacht ab, in der zwar eine Shuttlebus-Linie dem Publikum erlaube, in wenigen Stunden eine Vielzahl von (gekürzten) Inszenierungen kennenzulernen; das Gesamtticket koste in Hamburg 17 Euro, was z. B. für Sozialhilfeempfänger_innen ein Ausschlussgrund sein könnte.

 

Die großen Häuser am Tag nach der Theaternacht

Unsere Gesprächspartnerin bekommt die nicht jedem und jeder willkommene Gelegenheit, die Skepsis-Überschüsse der Augustin-Publizistik abzuarbeiten. Ob es überhaupt ein richtiges Anliegen sei, die richtigen Menschen in die falschen Häuser zu locken, lautet die Fragestellung. Ist es nicht deshalb falsch, das große Theater, weil es nicht dorthin kommt, wo die Menschen sind, sondern dort bleibt, wohin die meisten nicht folgen können? Warum ist das Projekt Gemeindehoftheater mit seinen Dario-Fo-Stücken abgetragen worden? Sollte man Student_innen ins Theater ködern, um ihnen darzubringen, was Bugtheaterdeutsch ist und wie man Volksgemurmel imitiert, oder sollte man nicht besser solche Begegnungen boykottieren, weil die großen Häuser bereits am Tag 1 nach der Theaternacht wieder das sind, was sie immer waren: Institutionen mit einer anachronistischen Herrschaftskultur, in der allmächtige Intendant_innen das Ensemble von allen wichtigen Entscheidungen ausschließen, um die überkommene Texttreue-Pflicht abzusichern, um Subventionsgeber nicht zu provozieren und um zu verhindern, dass die Bedürfnisse des schmäler werdenden Bildungsbürgertums nach langweiligem Guckkastentheater bis zum Tod des Theaters befriedigt werden? Was ist das für ein Wert, junge Frauen in Stücke zu locken, in denen Frauenfiguren nur leiden, nur Opfer sind und im Übrigen obligatorisch halb nackt?

Rebecca Eder verteidigt das Mitmachen einiger großer Theater bei der Theaternacht, denn die Menschen seien verschieden, und ein Teil des Publikums wolle den «Faust» nur auf den großen Bühnen mit herumstehenden und Texte wie halblebendige Jukeboxen vortragenden «Sprechern» sehen. Die große Mehrheit der 70 Projekte der Theaternacht biete spannende, zeitgenössische Theater- und Performancekunst. Die Theatervernetzerin zählt ein paar auf: Im brut-Theater beginnt um 21 Uhr (zum Unterschied von der langen Nacht der Museen ist die Theaternacht wirklich eine lange Nacht, die Red.) die Performance des Grazer »Theater im Bahnhof» mit dem Titel «Ein Talkshowkonzentrat». Vier Personen, die sich im weitesten Sinn der Schönheit verschrieben haben, z. B. ein plastischer Chirurg, werden von der gnadenlos agierenden TAB-Intervie­werin ins Intime, aber auch ins Politische gelockt. Im WUK-Projektraum zeigt das «Arme Theater Wien» ein Stück des britischen Dramatikers Dennis Kelly: «Waisen». Und im Veranstaltungsraum des Augustin, von den Verkäufer_innen liebevoll «Lounge» genannt, lädt die Augustin-Theatergruppe 11% K. Theater, die im Vorjahr mit Turrinis «Sauschlachten» ein heimlicher Höhepunkt der Theaternacht 2015 war, zur öffentlichen Vorgeneralprobe des Dramas «Der Weltmeister, frei nach Achternbusch». Eine spannende Debatte nach der Probe ist in der Inszenierung angelegt: Was die Person des Hitler betrifft, soll das Ensemble das Prinzip der Textreue weit hinter sich gelassen haben.

 

Knüpft das Augustin-Theater an den Erfolg vom Vorjahr an?

Befragt nach ihren eigenen Ideen in Sachen angewandte Theaterveränderung nennt Rebecca Eder das «unsichtbare Theater», auch «verstecktes Theater» genannt, als ein Genre, in dem sie in Zukunft gerne experimentieren wolle. Linke Theatergruppen der Weimarer Zeit hatten diese straßentheaterförmigen Abenteuer im Schnittfeld von Kunst und Revolte entwickelt; der Theaterarbeiter Augusto Boal adaptierte die Idee für die Bedingungen in der brasilianischen Militärdiktatur. Jeder beliebige Platz im öffentlichen Raum kann Bühne werden. Die Zuschauer_innen wissen nicht, dass sie Zuschauer_innen sind; sie glauben, das, was passiert, sei eine reale Konfliktsituation. Für Rebecca Eder ist «unsichtbares Theater» eine Form, die Menschen zu mehr Zivilcourage im öffentlichen Raum zu bewegen.

In Europa ist die Freiheit des Spielens und des Artikulierens im öffentlichen Raum durch die Stärkung autoritären Regierens da und dort bedroht. Ungarn ist die Spitze des Eisbergs. Umso erfreulicher ist, wenn man aus dem Munde Rebecca Eders erfährt, dass ost- und südosteuropäische Staaten sich zum Teil großzügiger gegenüber dem Projekt der Europäischen Theaternacht verhalten als etwa die verantwortlichen Stellen in Österreich (im Jahre 2012 musste der jährliche Zyklus in Österreich unterbrochen werden, weil es keine Subventionen gab). In Kroatien und Tschechien ist zur Zeit die Idee der Theaternacht am lebendigsten, betont Eder. Dass Kroatien führend ist, ist kein Wunder: Ein dortiges Jugendkulturzentrum hatte die Idee ausgeheckt, die dann bald über die kroatischen Grenzen schwappte. Kleiner Schönheitsfehler: Im Netzwerk der Theater-Nachtarbeiter_innen dominieren die Akteur_innen aus Osteuropa. Vielleicht gelingt ihnen eine Westerweiterung ihres Aktionsradius.

 

Offene Theaterprobe

von Augustins 11% K.Theater:

19. November, 19 Uhr, Augustin, Reinprechtsdorfer Str. 31, 1050 Wien

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