Kinder, Armut, Kunst, KulturArtistin

Kunst und Kultur? Ja, sagt der Verstand. Nein, widerspricht das Geldbörserl. Über «kulturelle Teilhabearmut» oder darüber, wie sich das Leben anfühlt, wenn man sich keine Kinokarte leisten kann, hat Lisa Bolyos mit Kindern und Erwachsenen gesprochen.

«Es gibt zum Beispiel einen Film im Kino, und man kann nicht hingehen, weil man das Geld nicht hat.» So beantwortet eine 13-jährige Wienerin meine Frage, wie es sich anfühlt, zu wenig Geld zu haben. Francesca und ihre 12-jährige Schwester Angelina (die Namen haben sie selbst gewählt, weil sie anonym bleiben wollen) leben mit zwei weiteren Geschwistern und ihrer Mutter in Rudolfsheim-Fünfhaus. Die Mutter, von den Kindern liebevoll «Big Mama» genannt, und tatsächlich ist ihre innere Größe beeindruckend, ist Alleinverdienerin. Sie arbeitet täglich sechs Stunden als Putzfrau in einer Schule.

Von Rudolfsheim nach Bollywood.

«Zeig mir das Geldbörserl deiner Eltern und ich zeig dir deine Zukunft.» Mit diesem Satz begann Nina Palackovic aus der Berufsschule Embelgasse im 5. Bezirk ihre preisgekrönte Rede beim Landes-Jugendredewettbewerb 2018. Statistisch gesehen hat sie recht, das belegt der Bericht Chancengleichheit in der Bildung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, indem er aufzeigt, wie eng die Klassenzugehörigkeit der Eltern mit den kulturellen und bildungsbezogenen Aufstiegschancen der Kinder zusammenhängt. Das soll aber natürlich kein Kind davon abhalten, für seine Träume zu kämpfen. Angelina, das selbstgewählte Pseudonym weist darauf hin, will Schauspielerin werden. In Hollywood? Nein, lacht die ältere Schwester: «In Bollywood, wie Shah Rukh Khan.» Francesca selber möchte Anwältin oder Polizistin werden. Meine Frage, ob sie an der Universität studieren will, quittiert sie mit einem legeren «Hab’ ich vor».
«Rund 325.000 Kinder sind in Österreich von Armut betroffen», sagt Judith Ranftler von der Volkshilfe, leben also in Haushalten, die weniger als 60 Prozent des österreichischen Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. Armut wird in einem Land wie Österreich oft als Ausnahmeerscheinung angenommen, als etwas, das vereinzelte Personen betrifft, die sichtbar obdach- oder mittellos sind. Dass Eltern sich erfolgreich bemühen, dass man ihren Kindern die Armut nicht ansieht, sie adäquat mit Kleidung und Schul­material ausstatten, aber am Monatsende das Geld für die Miete fehlt, das sind unsichtbare Wirkunsgweisen von Armut. «Als Mutter schaue ich, dass ich alle Kosten, die in der Schule entstehen, irgendwie zahlen kann, damit man das nicht merkt», sagt die Mutter von Francesca und Angelina: «Ich möchte ja nicht, dass die Kinder schikaniert werden. Mir ist wichtig, dass sie sich wohlfühlen.» Sparen ließe sich kurzfristig immer irgendwo: «Einmal bei der Miete, einmal beim Strom, aber im nächsten Monat muss ich das dann begleichen.»
Kinderarmut, mein Judith Ranftler, kann in einem reichen Land überwunden werden: «Sie ist ein großes Problem, aber ein lösbares.» Das Schmiermittel dazu ist der politische Wille.

Kinderarmut abschaffen.

Judith Ranftler leitet bei der Volkshilfe das Projekt Kindergrundsicherung. Initiiert vom Direktor der Volkshilfe Österreich, Erich Fenninger, soll es zeigen, dass statt individueller Unter­stützung armutsbetroffener Familien eine strukturelle Lösung des Problems Kinderarmut anstrebenswert und möglich ist.
Zuerst wurde definiert, wie viel Geld ein Kind in der materiellen, der sozialen, der kulturellen und der gesundheitlichen Dimension seines Lebens braucht, um nicht nur durchzukommen, sondern am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Auf 625 Euro pro Kind und Monat kam man dabei, die nach Familieneinkommen gestaffelt ausbezahlt werden und das gesamte bestehende System von Familienförderungen und Steuererleichterungen ersetzen könnten. Als nächsten Schritt ließ die Volkshilfe das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in einer aufwendigen Simulation berechnen, was das für Österreich an jährlichen Kosten bedeuten würde: rund 2 Milliarden Euro. Als Vergleichsgröße: Der neu eingeführte Familienbonus, der bei weitem nicht allen Kindern zugute kommt, wurde mit 1,5 Milliarden Euro veranschlagt; darin sind Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag und diverse Familienzuschläge noch gar nicht enthalten.
Seit Anfang des Jahres macht die Volkshilfe ein Pilotprojekt. Neun Familien mit insgesamt zwanzig Kindern wird für zwei Jahre Kindergrundsicherung ausgezahlt. Die Familien führen Haushaltstagebücher, reflektieren gemeinsam mit Sozialarbeiter_innen wie Ranftler über Bedürfnisse und ihre Bezahlbarkeit, ein wissenschaftliches Team begleitet das Experiment. Francescas und Angelinas Familie ist mit dabei. «Den Unterschied merken wir stark», sagt ihre Mutter: «Wir sind im Sommer Eis essen gegangen oder auch mal schwimmen.» Wenn dauerhaft mehr Geld da wäre, würde Francesca sich eine größere Wohnung wünschen, in der es Rückzugsraum für alle gibt. Sie würde gern einen Taekwondokurs besuchen und öfter mal Ausflüge machen. «Einmal sind wir am Wochenende mit den Rollerskates in den ersten Bezirk gefahren», erzählen die Kinder. «Wir waren spazieren, haben Bilder gemacht und die vielen Statuen angeschaut.»

Ein Problem namens Monatsende.

Es ist ein alter Hut, dass finanziell gut Ausgestattete sich von prekär Lebenden wünschen, sie würden einfach ein bisschen auf Konsum verzichten. Meine Interviewpartnerinnen aus dem Bildungs- und Kulturbereich erzählen, dass Schüler_innen das Taschengeld in den Colaautomaten investieren und Statussymbole wie die richtige Kleidung von immenser Bedeutung wären; sie fragen sich, warum Eltern sechs Euro für eine Theaterkarte der Kinder nicht aufbringen können, ihnen aber gleichzeitig neue Sneakers kaufen. Ja, es ist wichtig, das richtige Gewand zu tragen, bestätigen Francesca und Angelina: «Wenn du mit gefälschten Markenkleidern in die Schule kommst, wirst du gemobbt.» Dass man in einer Konsumgesellschaft auch am Konsum teilhaben möchte, ist eigentlich gar nicht so schwer zu verstehen.
Erhebt man die Wünsche der Kinder, deren Eltern mit zu wenig Geld zu kämpfen haben, so seien die aber ohnehin von einem unkindlichen Maß an Vernunft geprägt, erzählt Ranftler. «Da sind keine Luxuswünsche dabei», denn die Kinder wüssten – anders als finanziell abgesicherte Gleichaltrige – genau über das Problem namens Monatsende Bescheid. «Ein Bub hat nach ein paar Monaten Kindergrundsicherung erzählt, der größte Unterschied sei, dass es jetzt auch am Monatsende noch dunkles Brot gebe.» Der Vater einer anderen Familie habe sich erleichtert darüber gezeigt, dass er einen Zahlschein, den er von der Schule bekommen hatte, «sofort und in einem» begleichen konnte.

Recht auf Kunst und Kultur.

«Hier im Kollegium gibt es eher Ablehnung gegen die Idee, mit den Schülern und Schülerinnen Kulturveranstaltungen zu besuchen. Der Tenor ist: ‹Mit unseren Kindern kann man eh nichts machen›», erzählt Tamara Preinhuber (Name v. d. Red. geändert). Sie ist Lehrerin an einer Neuen Mittelschule am Rande einer großen Wiener Gemeindebausiedlung; und überzeugt davon, dass Kinder, Kunst und Kultur bestens zusammenpassen: «Die Kinderrechte nehme ich im Unterricht durch: Jedes Kind hat ein Recht auf Kultur.»
Mit der UN-Konvention über die Rechte des Kindes haben Vertragsstaaten wie Österreich unterzeichnet, dass Kinder ein Recht auf volle und freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben haben. Aber wie buchstabiert sich so ein Recht aus, wenn das Geld kaum für die Miete reicht? In der Kunst- und Kulturmetropole Wien gibt es eine Vielzahl an Gratisangeboten für Kinder, es gibt aber auch eine Menge, für die man Geld braucht: Theater, Kino, Ausstellungen, Workshops, Kurse, Bücher, von Ausflügen und kleineren Reisen ganz zu schweigen. Ob man ein Gratisangebot in Anspruch nehmen kann oder muss, das ist ein Unterschied, der Kinder schon in frühen Jahren Ungerechtigkeit und Ungleichheit spüren lässt.

Offene Türen im Kulturbetrieb.

Damit die finanzielle Situation der Eltern nicht darüber entscheidet, ob Kinder in den Genuss eines Theaterbesuchs kommen, hat sich das Dschungel-Theater in Wien eine Kulturpatenschaft ausgedacht, die die Ungleichheit zumindest einen Vormittag lang verschwinden lässt. Mittels prominent besetzter Veranstaltungen und Spendenaufrufen sammelt das Theater Geld, mit dem ganzen Schulklassen oder Jugendvereinen ein Theaterbesuch oder die Teilnahme an einem Workshop ermöglicht wird. «Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Schulklassen nicht ins Theater kommen, weil sich drei oder vier Kinder die Karte nicht leisten können. Dieses Haus soll aber ein Haus für alle sein», sagt Alexandra Hutter, kaufmännische Leiterin und Geschäftsführerin des Kinder- und Jugendtheaters im MuseumsQuartier. Ob es nun Theater, Tanz, Film oder Literatur ist, wichtig findet Hutter, dass Geschichten erzählt werden. «Wir versuchen Themen zu behandeln, die Kinder und Jugendliche beschäftigen – auch unangenehme Themen. Wenn du dann im Theater sitzt und dir denkst, dem da geht’s ja wie mir, oder die hat dieselben Gedanken oder Gefühle wie ich, fühlst du dich nicht mehr allein.» Um das Gratis-Angebot in Anspruch zu nehmen, müssen sich Lehrer_innen nur im Dschungel melden und einen Termin reservieren – kein Antrag, kein Formular, kein Nachweis erforderlich. Und kein einzelnes Kind muss sich als arm outen.
Individuelle Unterstützungsleistungen wie die finanzielle Notspritze aus dem Elternverein oder das Kontingent an Gratis-Eintrittskarten für nachweislich Bedürftige erfordern so ein «Coming-out». «Im Vorjahr sind wir in ein Musical gegangen, und ein Mädchen hat gefehlt», erzählt Tamara Preinhuber aus dem Schulalltag. «Am nächsten Tag hat sie mir gesagt: Ich hab die drei Euro nicht gehabt, und darum bin ich heimgegangen und hab mich im Zimmer versteckt.» Fürs nächste Mal habe sie dem Kind Unterstützung zugesagt: «Ob sie sich traut, vorher zu mir zu kommen, weiß ich nicht.»
Gratis Sachleistungen seien durchaus gut, meint Judith Ranftler. Aber wirkliche Chancen­gleichheit beinhalte die Freiheit, kein Angebot annehmen zu müssen, sondern selbst zu wählen. «Letztlich kann man Kinderarmut nur mit Geld bekämpfen», ist sie überzeugt. Und dafür muss es umverteilt werden.