Kino aus dem Flugzeughangarvorstadt

Wussten Sie, dass Graz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Filmstadt war? Heute erinnert sich kaum noch jemand an «Thaliwood». Eine Ausstellung und ein Programm des Diagonale-Festivals versuchen das zu ändern.

TEXT & FOTOS: CHRIS HADERER

Ist Graz eine Filmstadt? Eine Gretchenfrage, die sich aus mehreren Windrichtungen beantworten lässt. Wenn es um das Schauen von Filmen geht, dann auf jeden Fall, ist Peter Schernhuber überzeugt: «Immerhin gibt es in Graz noch vier funktionierende Kinos und das Diagonale-Festival», das er gemeinsam mit Sebastian Höglinger leitet. «Von der Produktion her ist es eher so, dass der österreichische Film weniger in großen Studios, sondern vorwiegend on-location gedreht wird.» Allerdings, für sieben Jahre und 17 Filme war Graz tatsächlich eine Filmstadt: Im Jahr 1947 wurde am Flughafen Thalerhof in einem Hangar, der prompt und bescheiden «Thaliwood» genannt wurde, mit der Produktion von Spielfilmen begonnen. Aus der kollektiven Erinnerung der Region ist diese Zeit fast schon wieder verschwunden – die letzten Relikte sollen um die Jahrtausendwende eingestampft worden sein. Wo einmal Filme gedreht wurden, drehen jetzt Flieger ihre Kreise.
In der von Maria Froihofer und Karl Wratschko kuratierten Ausstellung Film und Kino in der Steiermark, die als Diagonale-Kooperation startet und bis Jänner 2023 im Museum für Geschichte in der Grazer Sackstraße zu sehen sein wird, findet sich nur ein einziges Foto, das die damalige «Soundstage» zeigt: ein flaches Gebäude, es könnte auch ein Schuppen sein, achtzig mal vierzig Meter groß. «Es gibt kaum Fotomaterial, auf dem das Studio zu sehen ist. Es gibt Bilder von Schauspielern am Set und von Premieren, aber nicht mehr», sagt Wratschko. Beliebt war das Studio aus zwei Gründen: «Erstens war es das größte Studio im Land, was umfangreiche Bühnenaufbauten möglich machte», sagt Maria Froihofer, «und es war billig.» Mit 12.000 Schilling kostete ein Arbeitstag in Thaliwood um 5.000 Schilling weniger als in Wien und nur etwa halb so viel wie in München. Über die Jahre gaben sich Mim_innen von O. W. Fischer (in Erzherzog Johanns große Liebe, 1950) bis Hilde Krahl (in Das Tor zum Frieden, 1951) in Graz die Ehre – bis 1954 in Regisseur Karl Hartls (nach einem Drehbuch von Johannes Mario Simmel entstandenem) Melodram Weg in die Vergangenheit (mit Paula Wessely, Attila Hörbiger und Willi Forst) die letzte Klappe fiel.

Hollywood im Hangar.

Nach dem Weltkrieg diente das Kino vor allem zur unbeschwerten Unterhaltung, für die von der Film Section der Psychological Warfare Branch der Besatzer gesorgt wurde – mit «gesäuberten» Filmen ohne Bezüge zum Nationalsozialismus. Nicht nur ausländische Filme flimmerten über österreichische Leinwände, in den Nachkriegsjahren begann sich auch langsam eine heimische Filmszene zu entwickeln. Einer der Schauplätze war ein leerstehender Hangar am Flughafen Graz-Thalerhof, der von den Alliierten – die Steiermark war britisch besetzt – zwar benützt, aber nicht beflogen wurde. Dort richtete die Firma Austria Alpenland Avantgarde G.m.b.H. (AFA) ihr Studio ein. Eigentümer waren Hans Schott-Schöbinger, ein Schauspieler und Regisseur diverser Kulturfilme, und Anton Sternig, ein Industrieller. Sternig hatte ursprünglich den Plan, in einer unfertigen Fliegersiedlung im nahen Kaiserwald cineastisch aktiv zu werden, aufgrund «der fehlenden Infrastruktur aber konnte er seine Vision eines steirischen Hollywood nicht wie geplant in die Tat umsetzen», wie Brigitte Mayr und Michael Omasta in ihrem bei Synema erschienen Text Come and shoot in Thaliwood festhalten. Der Flughafen wurde zum Ausweichquartier – und sofort fragte sich die Regionalpresse: «Wird Graz jetzt eine Filmstadt?» Teils, teils.

Obskure Filme.

Der erste Film, der in Thaliwood produziert wurde, war das Drama Hexen (1949) von Hans Schott-Schöbinger mit Curd Jürgens in der Hauptrolle. Die Kritik reagierte auf den «unbeschwerten Film über die Rivalität zweier Stiefschwestern auf einer sagenumwobenen Burg in der Steiermark» eher skeptisch: «Während wir hartnäckig das Gähnen bekämpfen, packt uns erhebliches Mitleid – mit dem Drehbuchautor …», urteilte beispielsweise die Kleine Zeitung am 8. April 1949: «Alles in allem ein Film, den wir lieber nicht steirisch nennen, ein geistloser, langweiliger Zelluloidstreifen» – der beim Publikum dennoch oder gerade deshalb so gut ankam, dass Curd Jürgens fortan auch selbst inszenieren durfte. Im Jahr 1950 wirkte Jürgens an insgesamt sechs Produktionen mit – und sein Regiedebut «Prämien auf den Tod», ein Krimi-Melodram, wurde auch von der Kritik sehr gemocht – zumal Jürgens plakativ Andeutungen ins Medienvolk streute, er habe beim Schreiben Erfahrungen mit dem Aufputschmittel Pervitin verarbeitet, ein seit 1988 nicht mehr hergestelltes Methamphetamin-Präparat, das Wahnvorstellungen verursachen kann. In seiner Biografie … und kein bißchen weise schreibt Jürgens über die Arbeit in Thaliwood: «Ein Ofenfabrikant aus Graz, der in einer leerstehenden Flugzeughalle die obskursten Filme produziert, hat einen Narren an mir gefressen. Er lässt mir freie Hand, wenn ich nach eigenen Ideen einen künstlerisch wertvollen Film herstellen will.» Übrigens: Ein anderer Film, der die Steiermark nicht außen trägt, war Leopold Lindtbergs Die Vier im Jeep aus dem Jahr 1951 – eigentlich eine Schweizer Produktion, die aber zum Großteil in Thaliwood gedreht wurde. Während die Hauptstadt für gewöhnlich als Stellvertreter für Prag herhalten muss, fungierten hier Stempfergasse und der Glockenspielplatz als Double für die Wiener Innenstadt. Einige Szenen wurden im Hangar abgedreht und bei den Außenaufnahmen das Grazer Landhaus als das Wiener Palais Auersperg, der Sitz der internationalen Militärpolizei, ausgegeben. Der Schmäh blieb vom Publikum weitgehend unbemerkt, der Streifen wurde sogar bei der Berlinale 1951 mit dem Goldenen Bären und 1952 mit dem United Nations Award der British Academy Film Awards ausgezeichnet.

Das verflixte 7. Jahr.

Für das Ende von Thaliwood gab es mehrere Gründe, von denen zunehmende Konkurrenz aus Wien nur einer war. «In Thalerhof wurde der Flugbetrieb wieder aufgenommen. Wegen des Lärms konnte nur gedreht werden, wenn gerade keine Maschine gestartet oder gelandet ist», sagt Maria Froihofer. Dazu kamen handfeste wirtschaftliche Gründe – und ein Pfandrecht der Wiener Creditanstalt auf das Hangar-Atelier, was die Einstellung des Betriebs im Jahr 1954 zur Folge hatte. Thaliwood verschwand von der Bildfläche, und Graz war keine Filmstadt mehr. Innerhalb der über 125 Jahre alten Kinogeschichte der Steiermark – die erste Filmvorführung fand am 16. September 1896 im Hotel «Zur Post» in Leoben statt – ist das AFA-Studio zwar ein wenig in Vergessenheit geraten, spielt aber dennoch eine wichtige Rolle. «Durch die in Thaliwood gedrehten Filme gab es viele Premieren mit Stars in Graz», sagt Karl Wratschko. Die Stadt konnte damit glänzen – überhaupt, weil in den 1950er-Jahren «die goldene Zeit des Kinos« begann: «Der Heimatfilm kam auf. Nie zuvor gingen so viele Menschen ins Kino wie in den 50ern.» Es war die Zeit kurz vor dem Fernsehen. In der Ausstellung Film und Kino in der Steiermark verdeutlicht sich die heimische Filmhistorie. Sie ist in jedem Bundesland ähnlich und hat fast gleichzeitig begonnen – mit regionalen, nicht zuletzt der Landschaft entsprechenden und am Wohlstand der Region orientierten Akzenten. Die Ausstellung zeichnet den Weg des Films von der Projektion erster Werke der Gebrüder Lumière über die politische Instrumentalisierung des Films zu Propagandazwecken bis zur Entwicklung einer Kinolandschaft und einer eigenen Identität nach. Stehen Zeltkinos am Anfang der Schau, so ist die Abbildung der aktuellen Kinoszene noch nicht das Ende. «Es gibt ein merkbares politisches Bemühen, Graz als Filmstadt zu etablieren», sagt Sebastian Höglinger. «Vor einigen Jahren wurde mit der Film Comission Graz eine eigene Institution eingerichtet, die Filmproduktionen herbringen und Graz auch international als Location anbieten soll.» Das ist heute schwieriger als in Thaliwood-Zeiten, da die Bandbreite von der ORF-Serie bis zu teuren Netflix-Produktionen reicht und es finanziellen Aufwand bedeutet, internationalen Firmen die Alpenrepublik als Kulisse schmackhaft zu machen – nicht zuletzt durch Steuermodelle, die ausländische Produzent_innen ködern sollen. Corona hat die Aufgabe nicht kleiner gemacht.

Ausgelöscht.

Heute gibt es von Thaliwood keine Spuren mehr. Wenn man sich in der Umgebung des Flughafens umsieht, so präsentiert sich Graz-Feldkirchen östlich der Eisenbahn mit einer zwischen Heustadl und Factory-Outlet angesiedelten Architektur. Im Westen der S5, durch die der Hauptbahnhof nur zehn Minuten entfernt ist, erschließt der Blick mehrere Felder, Baugruben und Baumaschinen, Erdhaufen, ein paar Schilder mit der Aufschrift «Welcome to Graz Airport» und den Tower. Das flache Flughafengebäude selbst hebt sich erst nach einem kleinen Fußmarsch vom Horizont ab; knapp 400 Meter entlang der Flughafenstraße, die den Charme eines Tangentezubringers hat, nur kleiner. Tatsächlich fühlt man sich an ein Filmset erinnert – nachdem der Hulk dort aufgeräumt hat. Dass die Landschaft zwischen Großbaustelle und Erdäpfelacker mäandert, liegt an den Arbeiten zur Koralmbahn, die zwar nicht in der ehemaligen «Filmstadt» Thaliwood halten, aber zumindest unter dem Flughafen nach Klagenfurt durchfahren wird. Wer jetzt an Provinz denkt, ist ein Schelm.

Film und Kino in der Steiermark
Ausstellung im Museum für Geschichte
8010 Graz, Sackstraße 16
Bis 8. Jänner 2023
www.museumfuergeschichte.at

Come and shoot in Thaliwood
Filmprogramm im Rahmen der Diagonale
5. bis 10. April
www.diagonale.at

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