Deutsch lernen. Schön und gut. Warum aber Kinder, die es noch nicht sprechen, in separaten «Deutschförderklassen» sein müssen, ist nicht klar. Wie lief das erste Jahr der umstrittenen Maßnahme? Ruth Weismann (Text und Illustration) hat mit Lehrer_innen und anderen Expert_innen gesprochen.
Sechs Kinder und Jugendliche sitzen am Tisch, vor sich Arbeitsblätter. Die Atmosphäre in der Bibliothek dieser Neuen Mittelschule (NMS) im 10. Bezirk ist ruhig und konzentriert. Für die Deutschförderklasse, die hier Unterricht hat, beginnt gerade die zweite Stunde. Türkei, Bulgarien, Dominikanische Republik, England, Afghanistan– das sind die Herkunftsländer der Schüler_innen. Das Mädchen aus England ist erst seit ein paar Tagen hier. Ein Bub aus der Türkei lebt seit einem Jahr in Österreich, ebenso das Mädchen aus der Dominikanischen Republik. Dementsprechend unterschiedlich sind die Deutschkenntnisse. Zwei Lehrerinnen sind anwesend, zum Unterrichten und Unterstützen.
Ist die scharfe Kritik von Seiten vieler Expert_innen, die die Einführung der Deutschförderklassen im Wintersemester 2018/19 begleitete, also unberechtigt? Ist alles gut, wenn Kinder, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, einen Großteil ihres Schuljahres getrennt von anderen unterrichtet werden? Durchaus nicht, wie man von Lehrer_innen und Bildungswissenschaftler_innen hört. Nach einem Jahr Erfahrung lautet das Fazit: An Raum und an Ressourcen mangelte es, und die Frage nach der Sinnhaftigkeit sowie der Motivation hinter der Maßnahme steht auch immer noch im (Klassen-)Raum.
Zu viele Stunden?
26 Prozent der Schüler_innen in Österreich sprechen laut Integrationsbericht 2019 eine andere Umgangssprache als Deutsch. In Wien sind es 52 Prozent. Viele diese Kinder sind zweisprachig. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung unter der türkis-blauen Regierung sah «Handlungsbedarf», und der Nationalrat beschloss, ab dem Wintersemester 2018/19 sogenannte Deutschförderklassen einzuführen. Das betrifft Schüler_innen, die als außerordentlich eingestuft sind, vor allem jene, die neu nach Österreich kommen und bei Schuleintritt, egal in welcher Schulstufe, nicht oder nicht ausreichend Deutsch sprechen. Mittels des neu eingeführten Messinstruments zur Kompetenzanalyse – Deutsch (MIKA-D) müssen Lehrer_innen entscheiden, ob ein Kind in eine Deutschförderklasse kommt. Ab acht Kindern pro Schule wird eine solche Klasse organisiert.
Mit ihrer Stammklasse gehen die Kinder etwa turnen und werken. Steht dort aber Deutsch, Mathematik- und Sachunterricht an, werden sie währenddessen in die Deutschklasse geschickt. 15 Stunden in der Volksschule und 20 Stunden in der Sekundarstufe sollen sie in diesen separaten Klassen mit eigenem Lehrplan verbringen, um die Unterrichtssprache zu lernen. Die Gesamtunterrichtszeit für alle Fächer in einer Volksschule beträgt rund 25 Stunden, in einer Neuen Mittelschule (Sekundarstufe) rund 30. Die Anzahl der Deutschförderstunden, die von der Regelunterrichtszeit – und damit auch vom Fachunterricht – abgezogen werden, ist also hoch.
Laut einer parlamentarischen Anfrage vom Mai 2019 besuchten österreichweit 8.993 Schüler_innen im Schuljahr 2018/19 eine Deutschförderklasse, in Wien waren es 5.214. Im aktuellen Schuljahr geht man im Bildungsministerium von einem Rückgang um rund ein Drittel aus.
Raumnöte.
Ulrike Rötgens leitet das Sprachförderzentrum in Wien, eine Einrichtung der Bildungsdirektion (vormals Stadtschulrat). Die Pädagogin erzählt, dass die Herausforderungen bei der Einführung der Deutschförderklassen groß waren: «Durch die Einführung von sogenannten segregativen Klassen war die Raumsituation die größte Herausforderung an Wiener Schulen.» Dass der Unterricht in der NMS in Favoriten in der Bibliothek stattfindet, ist etwa dieser Raum-Herausforderung geschuldet. Ein anderes Zimmer steht nicht zur Verfügung, und so können andere Schüler_innen die Bibliothek während den Deutschförderstunden nicht besuchen. Am Donnerstag etwa ganze fünf Stunden lang.
Dass zusätzlicher Raumbedarf zu Schwierigkeiten führte, ist auch die Erfahrung von Frau N., ehemalige Leiterin einer Deutschförderklasse in einer Volksschule im 21. Bezirk. Das Lehrmittelkammerl wurde ihr zugeteilt, Tische und Stühle seien hineingepfercht worden, um bis zu 14 Kinder unterzubringen. Ab heuer soll das anders sein: Nur jene Schulen müssen Deutschförderklassen anbieten, die einen Raum zur Verfügung haben, die Kinder werden den entsprechenden Schulen zugeteilt. Die Bibliothek gilt aber als geeignet.
Viele Kinder, große Belastung.
Die 14 Kinder in der Volksschule im 21. Bezirk wurden hauptsächlich von Frau N. alleine unterrichtet. «Es war unmöglich», erzählt sie. Nicht nur der zu kleine Raum, auch die Anzahl der Schüler_innen und die Tatsache, dass manche vorher noch nie in einer Schule waren, andere aber schon, sei schwierig gewesen. «Bei manchen hat sich mir die Frage gestellt, warum sie hier sind, da sie schon gut Deutsch gesprochen haben.» Diese Kinder hätten sich oft unterfordert gefühlt, was zu Frustration geführt habe. Dass diese Kinder erst mit dem nächsten Semester dann vollständig in die Regelklasse wechseln dürfen, empfindet Frau N. als unsinnige Regelung.
Niemand in der Schule habe sich mit den Deutschförderklassen ausgekannt und von der Direktion habe sie keine Unterstützung erfahren, so die Lehrerin. Ihre Erfahrungen, die sie als extrem belastend empfunden hat, dokumentierte Frau N. schriftlich und wandte sich damit an die Bildungsdirektion. Dass sie nicht die Einzige gewesen sei, der es mit der Situation nicht gut ging, habe sie von anderen Kolleg_innen erfahren.
Das bestätigt Frau S., Volksschullehrerin seit 30 Jahren, die die Deutschförderklasse an einer Volksschule im 9. Bezirk leitete: «Ich habe es bei Weiterbildungsseminaren mitbekommen, dass viele Kolleginnen und Kollegen es schwar hatten, weil sie alleine mit so vielen Kinder waren.» Denn die Herausforderungen sind, u.a. wegen den unterschiedlichen Bedürnissen und Alterstufen, andere und härter, als in einer regulären Volksschulklasse.
Die Deutschförderklasse der NMS im 10. Bezirk wurde in den Hochzeiten von 17 Schüler_innen besucht. «Ich habe noch Glück gehabt», sagt die Lehrerin Frau C., die diese – eben in der Bibliothek – im ersten Jahr unterrichtete. Von Glück spricht sie, da auch sie von anderen Schulen gehört habe, dass noch mehr Kinder in einer Klasse gewesen seien.
«Ich fand es schon heftig, vor allem wenn man alleine ist», sagt Frau C. Schwierig gemacht hätten es die großen Niveauunterschiede in den Deutschkenntnissen, und dass im Laufe des Jahres immer neue Kinder dazugekommen sind.
Freundschaften fürs Lernen.
Frau S. von der Volksschule im 9. Bezirk hatte nur neun Kinder, einige davon konnten noch nicht lesen und schreiben. Sie habe sich aber nicht an die 15-Stunden-Vorgabe gehalten, sondern weniger gemacht, erzählt sie, und plädiert für Autonomie der Schulen, was die Entscheidung über die Stundenanzahl betrifft. Es sei wegen der Stundenpläne auch nicht anders möglich gewesen. In ihrer Klasse hätten die Kinder schnell gelernt, und auch die Anbindung an die Klasse habe funktioniert. Was aber nicht überall so ist.
Denn dass die Anbindung der Deutschförderschüler_innen an ihre Stammklasse schwierig war, den Eindruck habe sie durchaus, erzählt Frau C. von der NMS. «Sie wurden teilweise nicht so mitgedacht, hatte ich den Eindruck.» Eben diese Segregation war Gegenstand massiver öffentlicher Expert_innen-Kritik am Modell der Deutschförderklassen. Die Problematik einer «Wir-Sie»–Unterscheidung wurde genannt, die in «normal» und «nicht-normal» einteilt. Statt integrativ zu arbeiten, würde es zu Ausgrenzung führen. Aus sprachdidaktischer Sicht wurde und wird argumentiert, dass Kinder eine Umgangssprache vor allem in Kontakt mit anderen Kindern, die diese Sprache sprechen, lernen.
Susanne Schwab, Bildungswissenschaftlerin an der Uni Wien und im Bereich der Lehrer_innebildung tätig, hält es ebenfalls für nicht sinnvoll, wenn die Lehrperson die Einzige ist, die Deutsch spricht. Aber die Problematik geht für sie über den Spracherwerb hinaus. «Aus der Forschung weiß man, dass die Peer-Anbindung für die soziale Entwicklung, aber auch für die Leistungsentwicklung sehr wichtig ist», sagt Schwab. Freund_innen zu finden und Stabilität zu erfahren trägt also zu guter Entwicklung bei. Man habe auch nicht bedacht, so Schwab, was es für die Kinder bedeutet, dauernd die Klassen wechseln zu müssen. «Sie werden ständig aus ihrem sozialen Gefüge rausgerissen.» Und falls sie etwa nicht in die nächste Schulstufe aufsteigen könnten, müsste auch die Stammklasse wieder gewechselt werden. Das sei permanenter Stress für die Kinder.
Kinder müssen sich wohlfühlen.
Sprachförderung gab es natürlich auch schon vorher. Deutschförderung im Vorgängermodell konnte autonomer und integrativer umgesetzt werden, umfasste weniger Stunden, und eine räumliche Trennung – wie in der jetzigen Form – musste nicht stattfinden. An diesem Modell gab es weit weniger Kritik, man hört, es habe gut funktioniert. Die geballte Kritik am Modell der Deutschförderklassen hält Susanne Schwab für gerechtfertigt: «Sämtliche Stellungnahmen waren negativ, und dies ausführlich begründet. Das große Problem aus Sicht der Bildungswissenschaft ist hier, dass die Politik Entscheidungen trifft, ohne sich auf Evidenz zu stützen.»
Bei einer Veranstaltung im Mai in der Arbeiterkammer Wien zu Erfahrungen nach einem Semester Deutschförderklassen diskutierten Praktiker_innen und gaben ihre Statements zur Lage ab, die in einem Dokument auf der Website nachzulesen sind. Viel Kritik ist dort enthalten. «Es geht bei den Deutschförderklassen, so wie sie eingerichtet wurden, nicht um die Kinder», lautet etwa ein Statement. Gefordert wird: «Durchmischung statt Segregation.»
Auch Volkssschullehrerin Frau S. hält die Deutschförderklassen in dieser Form für politisch motiviert, und nicht pädagogisch: «Ich glaube nicht, dass es dabei um die Kinder ging.» Das Wichtigste für Kinder, damit sie etwas lernen, so ihrer Erfahrung: «Sie müssen sich wohlfühlen und Freunde haben.» Ihr Ausblick in die Zukunft? «Schau ma mal, was passiert, wenn jetzt eine neue Regierung kommt …»