Klassenreisetun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Eing'Schenkt (7. Mai 2024)

«Jeder, der einmal mit dem Jobcenter zu tun hatte, kennt diesen Moment der Verwandlung. Auf der Schwelle häutet man sich, streift seine Identität ab und lässt sie wie eine alte Hülle draußen vor der Tür liegen, um sich nun die Jobcenter-Kunden-Haut überzuziehen. Die ist empfindlich, spannt, sie ist auch nicht besonders reißfest und schützt die darunter liegende Unsicherheit nur dürftig», schreibt Undine Zimmer in ihrem Buch. «Welche Erfolge man im Leben auch erzielt haben mag, hier werden sie nichtig.» Sie erzählt von ihrer Kindheit, aufgewachsen in einer Familie unter der Armutsgrenze. «Es ist ein Unterschied, ob man sich aus verschiedenen Gründen dafür entscheidet, gewisse Dinge nicht zu kaufen, wenn man weiß, man könnte es, oder etwas nicht kauft, weil man es nicht kann.» Den Unterschied macht die Freiheit. Freiwilliger Verzicht macht stolz, unfreiwilliger demütigt.
Zahlreiche Bücher sind erschienen, in denen Autor:innen das eigene Aufwachsen und Leben in Armut autobiografisch und literarisch beschreiben. Undine Zimmer, Marlen Hobrack oder Anna Mayr nehmen uns auf diese «Klassen­reise» mit.
«Es gab schon Dinge, die ich als Schülerin als notwendig angesehen hätte und nicht haben konnte, Klamotten zum Beispiel, ich habe mich ständig schlecht angezogen gefühlt.» Ein Kind von Langzeitarbeitslosen zu sein, kann viel bedeuten, erzählt Undine Zimmer. Am prägendsten seien vor allem die fehlenden Erfahrungen – wie ein Familienurlaub ist, wie gut ein Sonntagsessen schmeckt und wie hilfreich in manchen Situationen spendable Verwandte sein können. Der Alltag ist neben dem finanziellen Jonglieren ein Ringen um Respekt und Würde. Die Mutter «wäre nie zu einer der Tafeln gegangen – schon aus Stolz nicht. Sie hat mich glauben lassen, dass die Armen andere Leute sind als wir».
Marlen Hobrack kennt das Gefühl. Die Schriftstellerin und Journalistin hat, als sie Sozialhilfe bezog, einen Möbelgutschein für ein Sozialkaufhaus bekommen, das sie auch aufsuchte. «Ich verließ das Sozialkaufhaus, dieses Kaufhaus für Arme, mit leeren Händen.» Hobrack sammelte sich von Eltern, Freund:innen und sonst wo ein paar Möbel zusammen, richtete manches her und stattete damit ihre Wohnung spartanisch aus. «Diese Dinge selbst ausgewählt zu haben, obwohl sie weder schick und edel noch modisch oder zeitlos elegant waren, war enorm wichtig für mich. Ich konnte damit leben. Das sind kleine Symbole dessen, was man als Würde bezeichnet.»
Undine Zimmer oder Marlen Hobrack sind mehr oder weniger erfolgreiche Schriftstellerinnen und Publizistinnen. Sie haben es aus der Armut geschafft. Da liest man die Erzählungen der schweren Kindheit mit der wohligen Gewissheit, dass alles zu einem guten Ende führte. Anna Mayr ist sich dieses Zusammenhangs bewusst. «Der neue Hype ums Scheitern hat deshalb nichts mit Respekt vor den Verlierern zu tun. […] Schick ist Scheitern erst dann, wenn es längst überwunden ist.» Verlierer:innengeschichten gehen nicht so gut, gebe es nicht den bereits eingepreisten Erfolg. «Das ist, was wir unter ‹Scheitern› verstehen: doch noch zu gewinnen.»
Das Besondere an ihren Erzählungen ist aber, dass sie den eigenen Aufstieg mit der Klassengewalt verbinden, ihr Aufwachsen in den ­sozialen und ökonomischen Kontext ihrer Herkunft stellen, die eigenen Widersprüche benennen und das eigensinnige Ringen um ein gutes Leben schildern. Und sie finden eine eindrückliche Sprache für diese ihre Erinnerung und Gegenwart.