Kleine Bart- und IndividualismuskundeDichter Innenteil

Warum finden wir die Bärte, die seit Jahren schon aus zarten Hipstergesichtern sprießen, so ulkig? Und warum trauen wir Lumbersexuals nicht zu, dass sie sich nach getanem Tagwerk mit männlichen Ellenbogenschwung Guinnessschaum, sondern Iced Vanilla Latte aus dem Hotzenplotzbart wischen? Es lässt sich leicht darüber spotten, doch sollte man ruhig auch mal die geschlechterpolitische Leistung dieser haarigen Gesellen würdigen: Sie demaskulinieren den Bart und stellen damit altbackene Rollenschemata in Frage. Da aber spotten mehr Spaß macht, will ich es dabei belassen, nicht ohne meinen Spott mit kulturgeschichtlicher Tiefe einen falschen Bart umzuhängen.Der Vollbart auf jungen Milchgesichtern wirkt so komisch, weil er eine besonders augenfällige Individualisierung vortäuscht, die man dem Träger nicht nur nicht abnimmt, sondern die sich selbst widerlegt, sobald alle Bart tragen. Er führt uns besonders drastisch vor, dass keine Mode alternativ genug sein kann, um nicht den gierigen Tentakeln des absoluten Marktes zu entgehen.

Der Vollbart als Insignie der Männlichkeit. «Der Bart», meinte Schopenhauer, «sollte als halbe Maske polizeilich verboten sein. Zudem ist er, als Geschlechtsabzeichen mitten im Gesicht, obszön.» Nach 200 Jahren relativer Bartlosigkeit lösten die rückkehrenden Soldaten aus dem Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Vollbartmode aus, die zugleich in einer unheroischen Zeit von Kapitalismus und verweichlichter Zivilisation unbändige Männlichkeit zelebrieren sollte.

Eine weitere Erklärung für die unfreiwillige Komik der neuen Plüschgesichter lieferte Karl Kraus. Der machte sich in der «Fackel» immer wieder lustig über das Prätentiöse des Bartes. Kraus war ein erklärter Feind der Phrase. Doch eine Phrase muss nicht nur eine sprachliche Figur sein. Auch Gesten, Kleider, sogar Bärte können Phrasen sein. 1913 machte er das in seiner Kritik der vermeintlich antibürgerlichen Bohemiens deutlich: «Jede Gebärde eine Arabeske, jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen würde: mich täuscht die Fassade nicht! (…). Löwenköpfe und die Herzen von Katzen! (…) Ich fege die Straßen, ich lockere die Bärte, ich rasiere die Ornamente!»

Der Vollbart kann neben Sexualisierung, Barbarisierung und Rebellion noch einen weiteren Anschein erwecken, dem Kraus besonders gerne hinter den falschen Bart geschaut hat: Vergeistigung, Verinnerlichung, Würde. Wir kennen sie alle, die vermeintlich altersweisen Katzbuckler und Funktionsträger des Systems, die mit einem halb sokratischen, halb adriakapitänsartigen Aussteigerbart sich über die Zeitenläufe erheben und gravitätisch darüber hinwegtäuschen, dass ihr Gesicht vor kurzem noch so aalglatt wie ihre Existenz war. Besonders neoliberalen Zeitungsredakteuren, die sich zu kleinlauten Kapitalismuskritikern wandeln, steht das Urban Unkraut besonders gut zu Gesichte (Kreisky, Busek und P. M. Lingens haben es ihnen vorgemacht); und ihre neuen Selbstzweifel sind mindestens so marktkonform wie die Gesichts-Macchia selbst.

Effekt im Wagner´schen Sinn

Kurzum: Der Vollbart als Phrase amüsiert durch die ungewollte Diskrepanz von Image und Träger, im Wagner’schen Sinn ist er Effekt: Wirkung ohne Ursache. Er erinnert uns wieder mal daran, dass kein aufgeklebtes Accessoire in der Herdenausfertigung je wirkliche Individualität behaupten kann und diese nur in einer kraftvollen Verweigerung und Bekämpfung der gesamten Shopping-Mall möglich ist, vor allem der Boutiquen, die Bewusstseins-Accessoires verscherbeln.

Ansonsten war der Vollbart als Mode vorhersehbar. Niemand hätte zum Beispiel zu Beginn der 1990er Jahre geahnt, dass junge Wollmützenträger sich bald alttestamentarische Ziegenbärte wachsen lassen oder dass der MTV- bzw. Psychopathen- bzw. Muschibart – bislang spießige Nischentracht von Hans Hass und Kleinbürgern mit pädophilen Neigungen – zum Symbol machoider Coolness avancieren würde. Man hatte die Barttrachten eben alle schon durch, lange Nasenhaar-Dreadlocks würde es nicht vor 2040 geben: So musste eben wieder mal, wie bei den gleichfalls harmlosen Folkies und Hipsters um 1960, der Vollbart her.

Die Band Dubliners führte zu dieser Zeit den Rauschebart als Insignie urwüchsiger Irishness ein. Dabei haftete den fünf Iren noch nicht das Image der schunkeligen Heimattümelei an, sie gaben sich rebellisch, links, bodenständig, aber zutiefst urban, und ihr dick aufgetragener Patriotismus ging damals noch als Befreiungsnationalismus durch. Kein ländlicher Ire, nicht einmal während der Hungersnot, hätte nicht zu einem Glasscherben gegriffen, um zumindest am Sonntag ein glattes Gesicht zu zeigen. Die Bärte der Dubliners waren antibürgerliches Statement, eine Kreuzung von amerikanischer Beatnikmode mit Dubliner Fin-de-Siecle-Referenzen à la George Bernard Shaw.

Um eine Bartmode jedoch machte man bis jetzt erstaunlicherweise einen Bogen: den Schnurrbart vulgo das Menjou-Bärtchen. Nein, nicht die Rotzbremse des FP-Polizeigewerkschaftlers, sondern jenes elegante ausrasierte Bärtchen, das Douglas Fairbanks jr., Errol Flynn, Clark Gable, Willy Birgel, William Powell und Adolphe Menjou (nach dem es benannt ist) trugen; zu zwielichtig, zuhälterhaft, uncodierbar erscheint den Individualitäts-Shoppern dieses Bärtchen der Müßiggänger und verarmten russischen Aristokraten im Monte Carlo der 20er Jahre. So will ich, um mich vor meiner Pflicht zu drücken, ein richtiges Individuum zu werden, wenigstens hierin mit gutem Beispiel vorangehen.

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