Klimafreundliche Mobilität muss leistbar seintun & lassen

Unter dem Motto Es brennt! Armut bekämpfen, Klima retten fand die diesjährige Armuts­konferenz statt. In der Wiener Verkehrspolitik wird gern so getan, als wäre die Klimafrage das Hobby einer hippen Mittelschicht. Aber eine Mobilitätswende muss dringend her, und sie ist auch eine Klassenfrage.

TEXT: LISA BOLYOS
ILLUSTRATION: SILKE MÜLLER

#Heislgate: Der SPÖ-Parteitag, viele Jahre lang eine von der Öffentlichkeit wenig beachtete Veranstaltung, hat es heuer endlich wieder zu lokalem Fame gebracht. Dank Ernst Nevrivy, seit 2014 Bezirksvorsteher der Donaustadt. In seiner Rede stellte der ­Genosse leicht aufgebracht fest, wie wichtig es ihm sei, dass die Partei in der Frage der Stadtstraße hinter ihrem Vorsitzenden, dem Bürgermeister Michael Ludwig stehe, und dass es nicht nett sei, wie dieser «von den Grünen und den ganzen anderen Heisln da draußen beleidigt und beschuldigt» werde. Von diesem kleinen historischen Moment Ende Mai in der Krieau ausgehend (wo die Wiener Linien vorübergehend ihren Betrieb einstellten, um die Demonstrant:innen nicht zu nahe an den Parteitag heranzulassen), könnte man viel Papier für die Frage verwenden, warum Ernst Nevrivy sich so sehr ärgern muss und warum er in der Sozialdemokratie nicht gelernt hat, Ärger in produktiven Konflikt umzuwandeln. Aber das soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Es ist o.k., ab und zu mal Heisl zu sagen. Nicht o.k. ist es, in so verantwortungsvoller Position die Klimakrise zu ignorieren und jene abzuwerten, die sie zum Thema machen; junge Leute, die deswegen auf die Straße gehen, Bewohner:innen der Donaustadt, für die weniger Pkw-Verkehr mehr Gesundheit bedeutet, oder Wissenschafter:innen von Scientists for Future, die nicht nur die Folgen der städtischen Verkehrspolitik berechnen können, sondern auch Vorschläge machen, wie es anders geht.
Heisl sagen hat natürlich auch die Funktion, sich auf der Seite derer zu positionieren, die man anerkennend als Prolet:innen bezeichnet. Die alte SPÖ- und ÖGB-Klientel, der man am liebsten nicht nur die Grünen, sondern gleich die gesamte Klimadebatte als bourgeois verkaufen möchte. PR-Berater Rudi Fußi folgerte dann auch, Nevrivy sei der «letzte echte Prolet in der SPÖ». Schön wär’s! Der letzte echte Prolet würde nicht dem Mythos aufsitzen, dass es den Prolos in Wien und auf der ganzen Welt egal wäre, wenn ihre Kinder die Folgen der Klimakrise ausbaden müssen, weil ihre politische Vertretung das Auto in der Garage mit der Freiheit des Proletariers verwechselt hat.

Stoßgebet.

Die Klimakrise ist auch eine Krise der sozialen Gerechtigkeit», ­schreiben die Scientists for Future in ihrem offenen Brief an den SPÖ-Parteitag. «Auf globaler Ebene ist das mittlerweile im öffentlichen Diskurs sehr gut angekommen», sagt Julia Dorner, Soziologin an der Technischen Universität Wien, in einer Pressekonferenz am 27. Mai: Die Länder des globalen Südens emittieren weniger klimaschädliche Gase, bekommen die Folgen der Klimakrise aber schneller und heftiger zu spüren und können sich Anpassungsmaßnahmen weniger leisten. Dasselbe gelte für die lokale Ebene, so Dorner. Also auch für Wien Donaustadt oder Rudolfsheim-Fünfhaus. Je geringer das Haushaltseinkommen, desto weniger wird Pkw gefahren, desto größer ist aber die Umweltbelastung in der Wohngegend. Die Gründe dafür sind simpel: Wer wenig Geld zur Verfügung hat, kann sich vielleicht noch ein Auto leisten, aber sicher nicht zwei, und muss sich bei den Ausgaben für Kraftstoffe einschränken; wer wenig Geld zur Verfügung hat, kann, weil der Autoverkehr im Wohnbezirk zunimmt und die Grünflächen schrumpfen, nicht einfach umziehen oder ins Wochenendhaus ausweichen.
Das berühmteste Stoßgebet von ­einer, die um Teilhabe am Markt der Verbrennungsmotoren ringt, kommt von ­Janis Joplin: «Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz», oder, in einer Version für den nächsten Protestsongcontest: «Oh Lord, won’t you buy me an E-SUV». 2018 veröffentlichte die Mobilitäts-Organisation VCÖ Zahlen, die belegen, dass im obersten Einkommensviertel 43 Prozent der Haushalte zwei oder mehr Autos haben und 9 Prozent keines. Im untersten Viertel haben 44 Prozent der Haushalte kein Auto und nur 9 Prozent zwei oder mehr. 1.660 Liter Kraftstoff verbrauchen die oberen 10 Prozent der Haushalte in Österreich pro Jahr – die unteren 10 Prozent liegen bei 285 Liter. Zahlen, über die sich die Armutsaktivistin ­Daniela Brodesser nicht weiter wundert: «Wenn man das Geld nicht hat, überlegt man sich jeden Kilometer.»
Für Brodesser ist die quantitativ und qualitativ eingeschränkte Mobilität der Armutsbetroffenen Lebenserfahrung. Mit ihrer Familie lebt sie in Oberösterreich am Land. Wenn Daniela Brodesser in den Zeiten größter Armutserfahrung morgens ihr Kind in den Kindergarten brachte und dann nach Linz wollte, um zu arbeiten oder Arbeit zu suchen, musste sie das Auto nehmen. Öffentlich hätte sie für die Strecke wegen der schlechten Anbindung mehr als zwei Stunden gebraucht, gleichzeitig wurde die kostenfreie Kinderbetreuung stark eingeschränkt, sodass Hin- und Rückfahrt innerhalb der Öffnungszeiten des Kindergartens nicht zu schaffen waren. Das Auto und seine Erhaltungskosten sparte sich Brodesser faktisch vom Mund ab. «Das Auto ist das, was mir in den Zeiten der größten Armut die meisten Sorgen beschert hat: Kann ich genug tanken? Was ist, wenn Reparaturen anstehen? Wenn ich einen Unfall habe? Das können wir uns alles nicht leisten.» Zur monetären Armut kam, so Brodesser, die Bewertung von außen: «Mit Auto wird man beschämt, es heißt: Kein Wunder, dass du dir nichts leisten kannst, wenn du ein Auto erhalten musst. Und ohne Auto wird man auch beschämt: Kein Wunder, dass du keine Arbeit findest, wenn du so unflexibel bist.»

Um 19,90 nach Madrid.

Eine sozial gerechte Verkehrspolitik wäre für ­Daniela Brodesser aber nicht billigerer Kraftstoff, sondern ein niederschwelliger und leistbarer Zugang zu klimafreundlicher Mobilität: «Die Armen können sich noch nicht mal die klimaschädliche Mobilität wirklich leisten, und ich wünsch mir, wir könnten sie überspringen und ­direkt zur klimafreundlichen übergehen.» Das ist ein gewichtiges Argument in der Debatte um sozial gerechte Mobilität: Es geht nicht um nachholende Entwicklung in klimaschädlicher Materie, es ist nicht das Ziel, das Konsumniveau der Reichen zu erreichen und die Klimakrise gemeinsam zu verschärfen.
«Die kapitalistische Lebensweise ist für viele attraktiv», sagt der Politologe Ulrich Brand, Autor des Buchs Die imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, ohne Spott: «Wenn die Flüge so billig sind, kann ich auch um 19,90 zum Spiel von Real Madrid fliegen.» Anstatt klimaschädliche Mobilität durch Kostensenkung scheinbar zu demokratisieren, müsse sie insgesamt drastisch reduziert werden: «In unserem Beispiel etwa durch eine gute Tages- und Nachtzugverbindung nach Madrid. Fans machen für ihren Club doch alles. Aber Fliegen muss nicht nur teurer werden, denn dann nutzen es die Wohlhabenden. Fliegen muss bewirtschaftet werden.» Sprich: reguliert und kontingentiert. Nur durch staatliche Eingriffe wird es gelingen, die Reichen vom Autofahren und vom Fliegen abzubringen. Eingriff, Verzicht? Da stellen sich bei vielen die Nackenhaare auf. Das Auto ist Teil des Selbstverständnisses des mitteleuropäischen Menschen, der nach 1950 geboren ist. Es ist Statussymbol, kompensiert Schwächen, verspricht Freiheit – fast wie die Marlboro einst die Transition zum Cowboy versprach. Aber der Verkehrssektor ist laut Bericht des Weltklimarats der einzige Sektor, in dem die Emissionen weiterhin steigen. «Emissionsobergrenzen einzuziehen bedeutet eine Reduktion des Autoverkehrs und auch der Anzahl der Autos», bestätigt Ulrich Brand: «Das schränkt die individuelle Freiheit ein? Ja logisch, weil sich ein Freiheitsverständnis, das beinhaltet, ich lass’ die Sau raus auf Kosten anderer, eben nicht ausgeht.»

Umverteilung ist Umweltschutz.

Zur Mobilitätswende kommen wir nicht durch Appelle ans individuelle Verhalten, sondern durch Infrastruktur, die eine Verhaltensänderung nahelegt, weil die klimafreundliche Verkehrsvariante leistbar, unkompliziert und attraktiver ist. Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, Vergünstigungen für öffentliche Verkehrsmittel und Ausbau der Rad- und Fußwege waren auch die Forderungen der Plattform «Sichtbar werden» bei der heurigen Armutskonferenz Ende Mai im Salzburger St. Virgil. Statt mehr Autostraßen und mehr Autoparkplätze muss in ein belastbares Fahrradstraßennetz investiert werden, die Sharing Economy muss sich von Innenstadt-E-Rollern, die nur zu Fuß zurückgelegte Wege ersetzen, ab- und einem breitenwirksamen Konzept für Fahr- und Lastenräder zuwenden. Nebenbahnen müssen wiedereröffnet oder neu gebaut, Sammeltaxikonzepte für den ländlichen Raum erstellt werden, der öffentliche und klimafreundliche Verkehr muss gut genug sein, um für alle die erste Wahl zu sein. Die Ideen sind da, und sie sind auch nicht revolutionär, sie brauchen nur ein bisschen Weitsicht und ein wenig Entscheidungsfreudigkeit auf Seiten der Bezirke, der Gemeinden, der Länder und des Bundes.
Die sozial-ökologische Transformation wird viel Geld kosten. Weil mit Wirtschaftswachstum, auch mit «grünem», keine Emissionsreduktion zu erreichen ist, wird man sich das Geld woanders herholen müssen. Schlechte Nachricht für die oberen Zehntausend: «Wir brauchen keine Philanthropen wie Elon Musk oder Bill Gates», so der Politologe Ulrich Brand: «Wir brauchen Steuern auf ihr Vermögen.»
Und die Expert:innen der Mobilitätswende? Die sucht man am besten in der Mobilitätsindustrie selbst. Eine junge Generation von Industrie- und Bauarbeiter:innen hat ein Eigeninteresse daran, dass die Welt bestehen bleibt – auch und gerade wenn sich ihre ­Arbeit dadurch sehr stark verändern wird. Ihre Kinder werden ihnen danken, dass sie früh genug erkannt haben, dass die Heisln Recht hatten.