Klinische LiteraturArtistin

Elena Messner, Kulturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Literaturpreisträgerin am Wiener Westbahnhof (Foto: Jana Madzigon)

Eine Patientin bricht zusammen, und kurz darauf kolabiert eine ganze Krankenhausabteilung. In Elena Messners neuem Roman Schmerzambulanz ist die Klinik die Hauptfigur: ein komplexer und fragiler Mikrokosmos inmitten eines kaputten Gesundheitssystems.

 

Ein ganzer Roman im und übers Krankenhaus – warum?

Elena Messner: Corona und die Pandemie haben ­evident ­gemacht, was gesundheitspolitisch schief läuft – ein Thema, das mich sehr interessiert. Ich habe mich schon vor mehreren Jahren mit den Folgen der Wirtschaftskrise in Spanien beschäftigt und habe dazu mit einem Kollegen aus Spanien Interviews mit Leuten aus sozialen Bewegungen geführt. Neben ­Immobilien und Korruption war der Gesundheitsbereich das dringlichste Thema, und ­dabei vor allem die ­Privatisierungswelle der Krankenhäuser. In der Zeit der Coro­na­pandemie ist mir bewusst geworden, dass es in Österreich im internationalen Vergleich noch ein ­relativ gut funktionierendes und solidarisches ­Gesundheitswesen gibt. Dort, wo Priva­tisierungen und Externalisierungen ­aggressiver vorangetrieben worden waren, ist das Gesundheitssystem viel schneller zusammengebrochen.

Du verhandelst das Gesundheits­system anhand einer einzelnen Klinik. Eine Patientin bricht zusammen, und ab diesem Moment scheint alles zusammenzubrechen.

Ich schreibe immer Bücher, die ich als Gesellschaftsanalyse verstehe. ­Dafür mache ich mich auf die Suche nach Räumen, die literarisch was hergeben, wo man gesamtgesellschaftliche Aspekte ­betrachten kann, dabei aber trotzdem einen gewissen Rahmen hat. Der Handlungsort gibt die Rahmenbedingungen vor, und da ist das Krankenhaus ein dankbarer Ort. Es ist einer der Orte, an dem – zumindest auf der Personalebene – ­etwas Seltenes passiert: Arm und Reich kommen zusammen. Alle müssen miteinander arbeiten und vernetzt bleiben, von den einkommensmäßig am meisten ­Benachteiligten bis zu den Privilegiertesten, sozusagen von der Putzfrau bis zum Primar. Und es geht dabei um etwas sehr Wichtiges, nämlich den Körper des Menschen. Das verursacht Reibungen.

Das Krankenhaus als gesellschaftlicher Mikrokosmos?

Die Welt im Kleinen, aber literarisch zugespitzt unter sehr dramatischen ­Bedingungen. Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt: Ich habe große Freude an der Trivialliteratur, die ich versteckt und verdeckt in den meisten meiner Bücher mitverhandle. Die Klinik ist ein sehr häufiger Handlungsort der Trivialliteratur: Krankenschwesternromane, Ärzteromane und so weiter. Das ist zwar genau das Gegenteil von dem, was und wie ich erzählen wollte, aber die ­Folien des Trivialen sind etwas, was mir beim Schrei­ben viel Spaß macht – ich versuche, diese ­Beziehungsgeflechte ironisiert mitzuerzählen.

Thomas Bernhard hat in «Wittgensteins Neffe» über seine Zeit auf der Baumgartner Höhe geschrieben, Anna-Elisabeth Mayer erzählt in «Das Fliegengewicht» von einem Krankenhausaufenthalt – ist das Literatur, in die du die «Schmerzambulanz» einreihst?

Fliegengewicht habe ich vor mehreren Jahren gelesen, ich habe eine meiner ersten Rezensionen darüber geschrieben. Das Buch ist mir während des Schreibens wieder eingefallen – wie Mayer dieses Spiel mit der Trivialliteratur auf die Spitze treibt, das fand ich sehr gut. Bei ­Thomas ­Bernhard möchte ich mich nicht einreihen. Das gibt es sehr häufig: der alte Mann, seine Krankheit, der Tod und das Sanatorium – eine in sich stark ­codierte, ­abstrahierte männliche Welt, in der es um ­scheinbar herausra­gende männliche Individuen und deren ins Philosophische sublimierte Körper- und Geisteserfahrung geht, geradezu egomanisch. Romane, die im Sanatorium oder in der Psychiatrie handeln, gibt es in der Literatur viele. Ich wollte aber etwas anderes versuchen: nämlich mit der auf eine Hauptfigur oder ein paar Hauptfiguren fokussierten Erzählung brechen und die Klinik und die Strukturen, in die sie eingebettet ist, selbst in den Vordergrund rücken.

Du beschreibst Arbeitsabläufe im Krankenhaus, Diskussionen zwischen dem Personal, formulierst medizinische ­Berichte – das wirkt alles sehr gekonnt und genau. Wie hast du für «Schmerzambulanz» recherchiert?

Ich habe hauptsächlich mit Ärzt:innen geredet, mit einer Internistin, einer Anästhesistin, einem Lungenfacharzt. Das andere war die klassische Recher­chearbeit: Studien lesen – es gibt ­viele sozio­logische Studien, in denen es um das Arbeitsfeld Klinik geht. Für die Sprachrecherche habe ich in Facebook-Gruppen mitgelesen, unter anderem zum Pflegestreik, um gewerkschaftliche Logi­ken, aber vor allem eben ihre Sprache kennenzulernen. Später habe ich begonnen, Fachzeitschriften zu lesen, die ­unter anderem von der Ärztekammer herausgegeben werden: Der Internist, oder Der Chirurg, alle Titel natürlich nicht gegendert. Darin finden sich wahnsinnig spannende gesundheitspolitische Debatten, die so in den Tageszeitungen nicht nachzulesen sind. Es werden teilweise sehr subversive Ideen durchdekliniert.

Wie wird aus der Recherche ein Roman?

Für den Roman arbeite ich nicht so systematisch wie für die Wissenschaft. Ich lese etwas, das mich interessiert, und wenn dann ein Satz oder ein Begriff wie «Ethikkonsil» oder «Schmerzambulanz» oder «Pflegestreik» vorkommt, Begriffe, die ich vorher so nicht im Kopf hatte, dann triggert das was. Und meine Arbeitsweise ist eher assoziativ. Außer was den Fall betrifft, der in der Schmerzambulanz die Handlung ins Rollen bringt – den habe ich in Zusammenarbeit mit einer Internistin entwickelt. Das war ein Basteln entlang von vielen, langen Gesprächen, was müsste passieren, damit … es war wie ein Mathematikbeispiel, richtige Puzzlearbeit. Spannend war dabei, zwischen den nüchtern medizinischen Logiken und dem, was nach meiner eigenen Vorgabe im Roman passieren muss, einen nachvollziehbaren Weg zu finden.

Die Figuren sind gesellschaftlich sehr divers, das wirkt aber nicht aufgesetzt, sondern eher nebenher. Hast du das strategisch so angelegt oder passiert dir das, weil das Leben halt so ist?

Meine Idee war, die Klinik selbst als Struktur darzustellen und nicht nur eine einzelne Figur und ihr Empfinden. Der Roman kommt ja stark vom Individuellen, man ist es gewöhnt, mit einer Figurmitzugehen. Wie kann man Strukturen überhaupt erzählen, wie in Literatur übersetzen? Sobald ich mir vorgenommen hatte, die Klinik selbst zu beschreiben, mit all ihren Pünktchen, die man verbinden muss, damit sie sich ergibt, konnte ich die Realität nicht leugnen. Ohne diese Diversität kann man Klinik nicht erzählen.
Zum Problem wurde dabei erzählstrategisch nur eines: Wie viel Handlungsspielraum hat die einzelne Figur überhaupt? Eine Putzkraft hat natürlich eine andere Art von Handlungsfähigkeit als die Ärztin, der Pfleger eine andere als der Primar, und letztendlich hat ja auch der Primar weniger Handlungsspielraum als das Management. Und jeder engt den Handlungsspielraum des anderen noch mehr ein. Letztendlich ist es zwar die Putzkraft, die das Leben der Patientin rettet, aber ich habe eine Reihe von ­Figuren ­gebraucht, die eine gewisse Komplexi­tät in ihren Handlungsoptionen haben. Insofern gibt es relativ viele Ärzt:innenfiguren. Ansonsten könnte so ein Roman durchaus noch diverser ausschauen.

Du hast für die «Schmerzambulanz» den Theodor Körner Preis bekommen – hilft das finanziell oder auch karrierehalber?

Vor allem haben mich in dem Fall die Juryerklärungen gefreut. Aus dem literarischen Leben kennt man in erster Linie literarische Jurybegründungen, aber beim Theodor Körner Preis waren die Begründungen inhaltlich fokussiert auf medizinische Fragen. Das hat mir in der Arbeit am Roman einen richtigen Drive gegeben. Ich hatte das Gefühl, das wurde verstanden, das funktioniert und ich kann es noch zuspitzen. Die Jurybegründung war wie ein produktives Feedback, eine Analyse, die man bekommt, bevor man fertig ist. Und das andere ist natürlich Ruhm und Ehre, die sind auch immer wichtig!

Schreiben und Beruf und Kinder und dann noch ein paar andere Interessen – wie geht sich das aus?

Zum Schreiben muss man sich selber freigeben. Das geht sich nur aus, wenn man die Zeit ­freischaufelt und andere Dinge dafür nicht tut. Ich ­glaube aber, das Schreiben, das mich interessiert, wäre gar nicht möglich, wenn ich jeden Tag nur ein ­Schriftstellerinnendasein führen ­würde. Wenn man es ­romantisch formuliert, ist man entweder Dichterin oder nicht, und wenn man es ist, ist man es auch, während man was ­anderes tut. Dieses Andere fließt ins ­Schreiben ein. Wenn ich den ganzen Tag nur zu Hause sitzen und dichten würde, käme zwar Dichtung über Dichtung raus, aber es würde ein Gehen in der Welt fehlen, um etwas zu sehen und zu erleben und mit etwas konfrontiert zu sein, das nicht der Alltag ist, den ich selbst gestaltet habe. Das Klischee vom einsamen Genie im Elfenbeinturm entspricht nicht meinem Lebenskonzept. Aber ich will nicht leugnen, dass ich gerne mehr Zeit zum Schreiben hätte.

Mehr Zeit heißt mehr Geld?

Das ist eine wirklich gute Frage. Ich habe einen Beruf in der Wissenschaft, und den mag ich. Nein, es heißt wohl eher, dass man gern zwei oder drei ­Leben hätte!

Du bist seit Langem zum Thema ­Heeresgeschichtliches Museum (HGM) aktiv. Was ist der aktuelle Stand?

Erstens danke an den Augustin für den wichtigsten Artikel der ganzen HGM-Debatte – das ist nicht ironisch gemeint! Es war vor drei Jahren nirgendwo sonst in der Art möglich, fundierte Kritik am HGM zu üben. Jetzt sind drei Jahre mit Debatten, Kommissionsberichten, Rechnungshofberichten, Tagungen, Ausstellungen und parlamentarischen Anfragen vergangen, und endlich ist die ­wichtigste ­Sache passiert: Das Haus hat einen neuen Direktor, und der plant eine starke Kurskorrektur. Die Ausstellung zum 2. Weltkrieg, die eine sehr verharmlosende Sicht auf den Krieg reproduziert hat, wurde symbolträchtig am 8. Mai geschlossen und wird im Jubiläumsjahr 2025 wiedereröffnet. Jetzt beginnt ein Neudenkprozess, zu dessen Mitgestaltung wir als zivilgesellschaftliche Gruppe auch eingeladen wurden. Der erste große Erfolg dieses Prozesses war, dass die Identitären am 5. Mai ins HGM spaziert sind, sich dort symbolisch von ihrem Lieblingsmuseum verabschiedet haben und eine Petition verfasst haben, dass man das stoppen muss, was gerade passiert – ­Stichwörter wie «Schuldkultmafia» sind da ­gefallen. Das Museum hat es also endlich geschafft, sich so zu positionieren, dass rechtsextreme Gruppen sich dort nicht mehr zu Hause fühlen. Was weiter passieren wird, werden wir aber erst sehen. Gesunde Skepsis angesichts eines so komplexen Prozesses ist immer noch angebracht.

Zurück zum Schreiben: Schreibst du an etwas Neuem?

Ja, ich schreibe an einem Roman. Es geht um Fleisch. Aber es wird noch vier bis fünf Jahre dauern, bis es da etwas zu lesen gibt.

Schmerzambulanz

Barbara Steindl wird ins Krankenhaus eingeliefert und bricht bald darauf zusammen. Was ist falsch gelaufen? Wer ist schuld? Und was muss jetzt passieren? Ein kurzer ­Moment, ein Anruf, die Einberufung eines Ethikkonsils, und kein Stein bleibt auf dem anderen. In Schmerzambulanz erzählt Elena Messner aus vielen Pers­pektiven und nähert sich so ihrer eigentlichen Hauptfigur an: dem Krankenhaus. Da ­arbeiten (wie lange noch?) Tom, Judit, Jovo, Tonja, Asja und wie sie alle heißen, nebeneinander, miteinander, früher waren sie enger, heute schleicht sich die Konkurrenz ein, der Zynismus auch. Ums Pflegen geht es und ums Sparen, ums Krankenhaus und sein Management, ums Überleben auf der Intensivstation und das Überleben im immer enger getakteten Arbeitsalltag. Ist das Krankenhaus ein Organismus? Eine Versorgungseinheit? Ein ­Arbeitsplatz, gar ein Ort des Streiks? Oder ist es eine Immobilie, in der es nur ­zufällig und temporär um Leben, Tod und Gesundheit geht?

Elena Messner: Schmerzambulanz
Edition Atelier 2023
228 Seiten, 24 Euro