Herr Groll auf Reisen. 374. Folge
«Zwischen Velden und Villach erstreckt sich auf einem Felsvorsprung oberhalb der Drau eine ausgedehnte Klosteranlage. Die mittelalterliche Burg der Sponheimer wurde im sechzehnten Jahrhundert von den Khevenhüllers zu einem Renaissanceschloss ausgebaut; nach vielen Besitzerwechseln und einer Profanierung als Kloster unter Josef II. gelangte die Anlage 1935 in das Eigentum der Internationalen Kongregation der Missionsschwestern vom Kostbaren Blut, die den von Unkraut überwucherten Bau wieder herstellten. Eine umfangreiche Landwirtschaft, ein Schulungszentrum, ein Restaurant, ein Klosterladen und ein integrativer Kindergarten finanzieren das Ordenszentrum», sprach der Dozent, eine Broschüre lesend. «Und in diese Gottesburg wollen Sie mich verschleppen?»
Groll und der Dozent näherten sich der Drau über die alte Bundesstraße. Velden erwies sich an diesem Pfingstsonntag als Touristenhotspot. Staus in den Straßen und in der Begegnungszone, überfüllte Cafés, am Platz vor dem Casino ein Dutzend Harleys auf den Gehwegen. Die Fußgänger waren gezwungen, Slalom durch die chromblitzenden Geräte zu laufen. Nichts erinnerte mehr an die Coronakrise, Groll und der Dozent sahen weder Gesichtsmasken noch Fußgänger, die Abstand hielten.
«Ich habe Sie im Kloster Wernberg für eine Rückgrat-Schulung angemeldet», sagte Groll. «Inklusive Videoaufzeichnung und Abschlussgespräch.»
«Was haben Sie an meiner Haltung auszusetzen?», fragte der Dozent während er in der Broschüre blätterte. «Ihr Verhalten während der Isolation war besorgniserregend», antwortete Groll. «Sie schwankten zwischen abgrundtiefer Verzweiflung und grundloser Euphorie. Ihre seelische Zerrüttung war am Telefon nicht zum Überhören» – «Geschätzter Groll, Sie sitzen einem Missverständnis auf», unterbrach der Dozent.
«Verehrter Dozent, die ‹Schwestern vom Kostbaren Blut› sind Meisterinnen ihres Fachs», erwiderte Groll bestimmt. «Des Weiteren habe ich Sie für ein Biografie- und ein Philosophie-Seminar angemeldet. In letzterem lernen Sie …»
Der Dozent las aus der Broschüre vor: «Wie kann man sich mit dem Unabwendbaren versöhnen und inneren Frieden schließen. Das Altern und der Tod sind oftmals unabwendbar.» Er lehnte sich zurück. «Wenn das Alter und der Tod nur oftmals und nicht immer unabwendbar sind, besteht Hoffnung, dass man beiden auch entgehen kann.»
«Das wirft ein neues Licht auf die Sache», pflichtete Groll dem Dozenten bei. «Es könnte sein, dass Sie bei den Schwestern vom Kostbaren Blut einen Crash-Kurs in ewiger Jugend absolvieren dürfen. Das ewige Leben hätten Sie dann mir zu verdanken! Ich bitte, das in Rechnung zu stellen, wenn Sie dereinst meine Leistungen beurteilen müssen. Sie werden mich ja überleben.»
«Das sagen Sie, der jede Lebensentscheidung, von der Berufs- über die Partnerwahl, nach dem Wasserstand der Donau ausrichtet!»
«Es gibt keinen besseren Maßstab. Er ist unbestechlich, er ist unverwüstlich – man bedenke die Wortwahl: unverwüstlich! In Zeiten zunehmender Dürre ist das von Bedeutung! – Und er ist für jedermann zugänglich. Man muss ihn nur zu lesen verstehen.»
«Ihre Präpotenz schreit zum Himmel!»
«Mäßigen Sie Ihre Worte, sonst melde ich Sie auch noch für das Clown-Seminar an!», versetzte Groll.
Er parkte seinen Kleinwagen auf dem Besucherparkplatz. Blühende Holunderbüsche säumten den Weg zum Haupteingang des Klosters. Der Dozent weigerte sich auszusteigen. Groll gab ihm zehn Minuten und sammelte in der Zwischenzeit spirituelle Kräuter vom Wegrand.