Nach John Irving kriegt auch Thomas Bernhard sein Pissoir
Den Pissoirs im Haus der Volkshochschule Hietzing fehlten die üblichen Männerbotschaften an den Wänden. Wiener Häusl-Graffiti-Forscher wie Northoff und Siegl hassen solche Blanko-Flächen. Kein Wunder, dass die Männerklowände in seinem Hause unberührt bleiben, sagt Robert Streibel, VHS-Leiter. Die institutionalisierte Erwachsenenbildung ziehe nämlich vor allem Frauen an. Vor einigen Wochen hat der Herr Direktor selber die Pissoirwände beschrieben. Mit Irving-Zitaten. Vandalismus von oben?
Volksbildung mach ich wo immer. Da brauch ich dazu nicht einmal eine Volkshochschule. Der legendäre Volksbildner Viktor Matejka (19011993), dem dieser Satz zugeschrieben wird, hatte mindestens zwei Suchtkrankheiten den Wunsch, alle neuen anspruchsvolleren Bücher der Woche auf einmal zu lesen (Wie ein Süchtiger wanderte ich durch die Buchhandlungen), und die Besessenheit, das aktuelle Wissen der Welt dem Volk, den unteren Schichten der Gesellschaft zugänglich zu machen. Dabei war Volksbildung für Matejka grundsätzlich an keinen definierten Ort, an keinen institutionellen Rahmen gebunden. Immer und überall müsse Bildung für die historisch von der Bildung Ausgeschlossenen möglich sein. In seiner deftigen Art verdeutlichte er: Jedes Scheißhäusl ist ein Ausstellungs-, Theater- oder Volksbildungsraum!
Robert Streibel hält vieles von Matejka Gedachte für weiterhin gültig. An der Atmosphäre, die in seiner Volkshochschule in der Hofwiedengasse zu schnuppern ist, ist die matejkische Leidenschaftlichkeit, die der Direktor der Idee der Volksbildung widmet, abzulesen. Kein Zufall, dass eine der wenigen Erinnerungsveranstaltungen für Matejka, das Symposium des Jahres 2005, in der Volkshochschule Hietzing stattfand. Und zwar ohne jeden kalendarischen Anlass. Der Historiker Robert Streibel zieht vor Viktor Matejka auch deshalb den Hut: Als einziger hoher Politiker (Matejka war nach dem II. Weltkrieg Kulturstadtrat von Wien) lud er die von den Nazis vertriebenen ÖsterreicherInnen offiziell ein, aus dem Exil zurückzukehren: Sie seien beim Neuaufbau höchst willkommen.
Matejkas Diktum, jedes Scheißhäusl könne zum Ort der Volksbildung werden, war zwar nicht unbedingt so zu verstehen, dass die Volkshochschultoiletten besser für die Wissensvermittlung geeignet wären als die Kursräume; für Robert Streibel war es immerhin ein Impuls, auch die endlich renovierten Aborte (die neuen Öko-Urinale sind wasserlos und geruchsfrei, weil eine ölige Spezial-Sperrflüssigkeit im Syphon wie ein flüssiger Deckel wirkt) zur Kultstätte zu erklären, nachdem schon die Unzumutbarkeit der alten Klos mit ihren grindigen Keramik-Rinnen anlässlich eines Pissoir-Kunstprojekts von Martin Praska thematisiert worden war.
Das erste der neu gestalteten Pissoirs ist dem Schriftsteller John Irving gewidmet, steht doch in seinem Roman Die wilde Geschichte vom Wassertrinker das Pinkeln im Mittelpunkt. Ein Bernhard-Pissoir wird folgen. Texte aus Romanen sollen Lust auf Literatur machen, sagt Literaturpissoir-Erfinder Robert Streibel, aber neben der Literaturvermittlung ist uns auch die Gesundheitsförderung ein Anliegen, ergänzt er augenzwinkernd, auf die Adressen der Hietzinger Urologen hinweisend, die ebenfalls im Pissoir angebracht wurden. Vielleicht locken ungewöhnliche Pissoirs mehr männliche Besucher in die Erwachsenenbildung, spricht er erneut den Frauenüberschuss unter den VHS-NutzerInnen an. Auch das nicht ohne Augenzwinkern, denn der Direktor weiß, dass das Gender-Verhältnis ein strukturelles Phänomen ist, das nicht mit speziellen Lockangeboten ausgetrickst werden kann. Nur 18 bis 20 Prozent der KursbesucherInnen in der allgemeinen Erwachsenenbildung sind männlich. Mit geringerem Aufwand sei übrigens das Geschlechterverhältnis auf der Leitungsebene umzudrehen, wo im Wiener Volkshochschulwesen zehn Direktoren nur acht Direktorinnen gegenüberstehen, wie Streibel uns mit zwei Stricherllisten vorrechnet. Das Ergebnis überrascht ihn: Ich hatte schon einmal mehr weibliche Kolleginnen.
Mit Projekten wie dem literarischen Pissoir und anderen (darüber demnächst in diesem Blatt) macht jedenfalls die VHS Hietzing wenn auch unter männlicher Leitung nichts Verkehrtes vor: Damit Volkshochschulen lebendige Freiräume des nichtakademischen Denkens bleiben, ist Phantasie gefragt.
In Wartezimmern von Ärzten spürt man immer eine ganz seltsame Verbrüderung unter den Patienten … doch im Wartezimmer eines Facharztes gibt es eine noch viel schlimmere Intimität … hier saß eine Zwangsgemeinschaft: Leute, die Schwierigkeiten beim Pinkeln hatten. Wir könnten Wettkämpfe veranstalten eine Art Sportfest für urologische Disziplinen. (John Irving)