Richard Schuberth erzählt in seinem historischen Sachbuch «Lord Byrons letzte Fahrt» auf über 500 Seiten von den Kämpfen und Ideen um die Unabhängigkeit Griechenlands in den 1820er-Jahren.
INTERVIEW: ANDREAS FELLINGER
FOTO: JANA MADZIGON
Richard, deine beiden aktuellen Bücher weisen aus meiner Sicht zwei Gemeinsamkeiten auf: Sowohl im Roman Bus nach Bingöl als auch im druckfrischen historischen Werk Lord Byrons letzte Fahrt geht es ums Unterwegssein – und in beiden steht Widerstand im Mittelpunkt, im einen jener Kurdistans, im anderen jener Griechenlands. Dazu kommt noch die geografische Nähe. Hast du das bewusst so gewählt, oder hat es sich zufällig so ergeben?
Das sind zwei unterschiedliche Baustellen, aber auch zwei Interessensfelder von mir. Die beiden Orte sind sich auch nur aus österreichischer Perspektive nah. Für die Menschen im Griechenland um 1820 war Kurdistan dort irgendwo in Persien oder Indien. Der Oberbandit bzw. Freiheitskämpfer Kolokotronis meinte einmal, in seiner Jugend waren die Ionischen Inseln für die Bewohner_innen der Peloponnes nicht weniger fern als Amerika. Was die Themen vereint: die gemeinsame Verbindung mit dem Osmanischen Reich. Bus nach Bingöl ist aber in der Gegenwart verortet, behandelt andere Fragen. Ein Zusammenhang mag sich daraus ergeben, dass es ohne Griechenland vielleicht auch die Türkei in ihrer heutigen Form nicht gäbe und ohne deren Nationalismus keinen kurdischen Widerstand.
In der Einleitung zu deinem Buch klärst du uns Leser_innen auch dahingehend auf, dass das «Territorium des heutigen griechischen Staates ein Flickenteppich albanischer, wlachischer, slawischer und griechischer Dörfer und Communitys» war, «deren Grenzen zueinander sich nicht zwingend durch Herkunft und Sprache definieren mussten». Erläutere uns doch bitte das Muster und die Auswirkungen dieses Fleckerlteppichs!
Der griechische Aufstand wird immer als nationaler Freiheitskampf dargestellt. Doch die Idee der ethnischen Nation existierte nur in westlichen Köpfen. Die Aufständischen wollten nicht nur das Gebiet des antiken Griechenland befreien, sondern das Osmanische Reich übernehmen. Ihre Identität war konfessionell. Christlich-orthodoxe Albaner_innen und Bulgar_innen standen orthodoxen Griechischsprachigen näher als katholische Griech_innen. Und albanische, slawische und griechische Muslime wurden als «Türken» bezeichnet und als solche ermordet. Unsere nationalen Kategorien sind Projektionen in die Vergangenheit.
Ich bin immer noch völlig baff angesichts der unfassbaren Fülle an politischen und personellen Einzelheiten, an Kämpfen und ihren Mitwirkenden, die du recherchiert hast. Das sieht nach richtiger, womöglich jahrelanger Arbeit aus …
Ja, es wären sich noch 20.000 weitere Seiten ausgegangen. Lord Byrons letzte Fahrt ist nur, so vermessen das klingen mag, ein kleiner Teil meiner «Balkan Studies». Ich habe 2009/10 einen sehr fetten Roman über die Verwirrungen eines jungen deutschen Philhellenen im Griechischen Unabhängigkeitskrieg geschrieben, der noch unveröffentlicht ist. Als das Jubiläumsjahr 2021 nahte (200 Jahre Griechische Revolution; Anm. d. Red.), wusste ich, dass wohl oder übel ich das Buch schreiben muss. Eine Restlverwertung sozusagen. Aber über lange Zeit lebte ich wirklich in den 1820er-Jahren, las die Zeitungen von damals und kannte jeden südbalkanischen Bergbanditen persönlich. Ich musste mich in die politische Realität der Gegenwart erst wieder reintegrieren.
Du schreibst, der «Griechische Unabhängigkeitskrieg war mehr als nur ein exotischer Mikrokonflikt an der Peripherie Europas» und attestierst ihm eine Vorwegnahme politischer Phänomene des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus. Inwiefern?
Der Kürze wegen werde ich die Antwort in Stichwörtern rappen: humanitärer Interventionismus, Kreditimperialismus, politische Romantik, Nationalismus, Medienpropaganda, die «Europäischen Werte», Orientalismus, Hilfslieferungs-Business, Völkermord, die sog. «Orientalische Frage» (das Pendant zur heutigen Nahostpolitik), NGOs, die Ethnisierung komplizierter, stets sozialer Konflikte …
Du publizierst auch unter dem Pseudonym Lord Nylon. Unschwer ist die Assoziation zur Titelfigur deiner Griechenlandgeschichte herzustellen, den du an einer Stelle als ersten Popstar bezeichnest, als Poeten, Wüstling und Abenteurer. Was verbindet die beiden Lords? Die Literatur, die Freizügigkeit, die Eitelkeit, die Abenteuerlust? Was fasziniert dich an Lord Byron?
Kleine Korrektur: Lord Nylon war nur eine Kunstfigur für eine Radiokolumne auf Ö1 und hat mit Byron nix zu tun. Ein launiges Wortspiel aus früheren Tagen. Lord Byron kenne ich sehr gut, weniger fasziniert er mich, als er ein hochinteressanter Knotenpunkt der Widersprüche seiner Zeit ist. Als Teenager kokettierte ich mit dem fürs 19. Jahrhundert prägenden Typus des «Byron’schen Helden», dann fand ich diese Art der Stilisierung lächerlich und verwerflich, bis ich seine Biografie las und erkannte, dass niemand wie er den Popkult um ihn sowie die Eitelkeiten seiner Zeit, besonders die eigene, durch den Kakao zog. Byron, ein reuiger Sünder vor dem Herrn, war, während alle so sein wollten wie er, der erste Überwinder des Byronismus. Im Buch spielt er aber wirklich nur eine Nebenrolle.
Vor wenigen Tagen kamst du in den Genuss des diesjährigen Theodor Kramer Preises. Was bedeutet für dich ein Preis dieser oder anderer Kategorie? Wertschätzung, Geldschätzung, andere Schätzung?
Geld kann ich immer brauchen. Aber meine besten und arbeitsintensivsten Sachen brachten nie was ein, sodass ich schon an der Qualität meiner Werke zu zweifeln beginne, wenn sie plötzlich materiell entlohnt werden. Der Theodor Kramer Preis wird für widerständiges Schreiben vergeben. Während andere Preise mit der Gesellschaft versöhnen, belohnt dieser Nonkonformität. Das freut mich. Und besonders freut es mich, ihn mit der verdienten Feministin Eva Geber teilen zu dürfen.
Rezension
«Die schönste aller alliierten Armeen»
Ein 500-Seiten-Ziegel über die Geschichte bzw. Vorgeschichte des modernen Griechenland und seine Befreiungskämpfe in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts? Steht das dafür? Ja, wenn man, wie sein Autor Richard Schuberth, nichts weniger als ein Standardwerk im Schild führt. Und wenn man so fesselnd erzählen kann, wie er es tut. «Das vorliegende Buch kann und will keine vollständige Ereignisgeschichte bereitstellen», schreibt er in der Einleitung. «Die Abfolge der unzähligen Scharmützel, Hinterhalte und Massaker mag den Actionfan wie den Militärhistoriker erfreuen …», zivilisierten Leser_innen bedeute das weniger.
Den Weg bis zur Nationswerdung vor dem Hintergrund einer modernen bürgerlichen Demokratie säumte ein Sammelsurium aus okkupationswilligen Räuberbanden unterschiedlicher Herkünfte. Am vorläufigen Ende entstand die Nationalisierung in Verknüpfung mit dem Verbot anderweitiger kultureller Einflüsse. Das Diktat griechischer Einheitssprache legt Vergleiche zu jenem des türkischen Staatengründers Kemal Atatürk nahe.
Die Gegner der Unabhängigkeit waren u. v. a. das Osmanische Reich, die Türken, die Albaner, die Ägypter, die Bayern, die Österreicher. Als Fans – vom Autor zusammengefasst unter dem Begriff der Philhellenen – outeten sich u. a. die Romantiker_innen, etliche deutsche, aber auch britische, wie zum Beispiel die Schriftsteller_innen
Percy und Mary Shelley und natürlich, wie schon im Buchtitel ersichtlich, Lord Byron. Der formulierte seine Begeisterung für die Sache so: «Ich weiß nicht, ob es einen Boxkampf zwischen dem Hauptmann und dem Oberst geben wird, aber mit unseren suliotischen Anführern, unseren deutschen Junkern, unseren englischen Freiwilligen und den Abenteurern aller Nationen bilden wir wahrscheinlich die schönste aller alliierten Armeen, die je unter demselben Banner gekämpft hat.»
Die alliierte Schönheit ändert freilich nichts daran, dass die Geschichte der griechischen Unabhängigkeit unverkennbar eine Männergeschichte ist, eine des Patriarchats. History als his story, «angesogen mit Testosteron, Brutalität und Homophilie», schreibt Schuberth und erwähnt eine Frau erstmals jenseits von Seite 100. Einer meiner Lieblingssätze des Autors, ziemlich am Ende dieses Buchs, kann auch als Fazit der Geschehnisse gelesen werden: «In der Hitze seiner Gefechte verdampften große Einbildungen, Illusionen, Projektionen.»
Wir haben es hier also mit einer Fülle, fallweise einer Überfülle an Einzelheiten von Kämpfen und ihren Mitwirkenden zu tun. Da herrscht absolut kein Personalmangel. Es ist ein wahrer Ozean an Details, in denen der Autor schier unerklärlich nicht ertrinkt, sondern ihn souverän durchschwimmt – und das in einer stilistischen Brillanz und sprachlichen Eleganz, die ihresgleichen in deutschsprachigen Gefilden vergeblich sucht. Qualitäten, die man üblicherweise bei britischen und amerikanischen Autor_innen vorfindet, allen voran bei Eric Hobsbawm. Lord Byrons letzte Fahrt, das ist nichts weniger als Geschichtsschreibung de luxe!
Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt.
Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges
Wallstein Verlag 2021
533 Seiten, 30,80 Euro